Schwabenspiegel
1. Genese
Das ursprünglich als Königs- und Kaiserrecht sowie als Land- und Lehnrecht bezeichnete Rechtsbuch wurde erstmals 1609 von Melchior Goldast (1578−1635) in Anlehnung an den Sachsenspiegel fälschlich „Schwabenspiegel“ genannt – ein Name, der sich schnell durchsetzte.
2. Definition
Der Schwabenspiegel gehört mit seinen über 400 überlieferten Handschriften des Landrechts zu den am weitesten verbreiteten Rechtsbüchern des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Er fand vor allem im süddeutschen Raum Verbreitung, aber auch in der Schweiz, in Frankreich, Böhmen, Schlesien, Ungarn und Siebenbürgen. Abschriften, oft in Kompilationen mit anderen Rechten, befinden sich unter anderem in den Archiven von Brünn/Brno, Budapest, Kaschau/Košice und Bukarest/Bucureşti (früher in Hermannstadt/Sibiu). Bekannt sind Übersetzungen ins Tschechische, Lateinische, Französische und Niederdeutsche. Das Buch umfasst deutsche, zumeist auf dem Sachsenspiegel beruhende Rechtsartikel, hat aber auch römisches und kanonisches Recht sowie Abschnitte der Heiligen Schrift und andere Quellen aufgenommen und spiegelt damit den Fortschritt der Rezeption römischen Rechts im Rechtsdenken des Mittelalters wider. Illustrierte Ausgaben sind weniger bebildert als die Bildhandschriften des Sachsenspiegels.
3. Entstehung und Einflüsse
Vorlage war eine zwischen 1265 und 1275 entstandene oberdeutsche Sachsenspiegelübersetzung, der Augsburger Sachsenspiegel. Wahrscheinlich schrieb ein Augsburger Franziskanermönch 1274/75 unter Einführung weiterer Artikelgruppen den sogenannten „Deutschenspiegel“. Wohl, weil dieser unvollendet blieb, entstand aus diesem wiederum 1275/76 der Schwabenspiegel, wobei auch fränkische Kapitularien, Institutionen von Justinian, der Mainzer Landfriede von 1235 und weitere Quellen einflossen. Das Buch der Könige, ein Geschichtsbuch, das die Entwicklung der weltlichen Herrschaft und des Rechts heilsgeschichtlich einordnet, wurde nicht in alle Handschriften übernommen. Im Gegensatz zur Zwei-Schwerter-Lehre des Sachsenspiegels – und des „Deutschenspiegels“ –, laut der zum Schutz der Christenheit der Papst das geistliche und der Kaiser das weltliche Schwert erhält, vertritt der dem Papst nahestehende Schwabenspiegel-Autor die Überzeugung, dass beide Schwerter dem Papst ausgehändigt werden, damit dieser den Kaiser mit dem weltlichen Schwert belehnt. Der Einfluss des Schwabenspiegels als Gesamtheit bzw. als Name auf andere Rechte ist nicht belegt. Dagegen lassen sich einzelne deutschrechtliche Artikel in ungarischen Stadtrechten wie dem Ofner und dem Tavernikalrecht sowie in sächsischen Stadtrechten in Siebenbürgen nachweisen.[1]
4. Diskurse/Kontroversen
Eine Endredaktion blieb dem Schwabenspiegel offenbar verwehrt. Bemängelt werden vor allem in der älteren Literatur die unterschiedliche Qualität der Textstellen und inhaltliche Widersprüche[2]. Im 19. Jahrhundert begann sich die Ansicht durchzusetzen, dass der Schwabenspiegel „minderwertiges“ deutsches Recht sei. Unter dem Einfluss der Romantik wurde eine Schwächung und Zurückdrängung des deutschen Sachsenspiegel-Rechts und eine Schwächung von dessen „Poesie“ bemängelt,[3] ein Gedanke, der in der Zeit der NS-Diktatur besonders rezipiert wurde.[4]
Das Paradigma vom „verschlechterten“ Sachsenspiegelrecht scheint bis heute vorzuherrschen, auch wenn es keine explizite Argumentation in diesem Sinne mehr gibt. Nahm die Sachsenspiegelforschung nach einer eher ruhigen Phase in der Nachkriegszeit besonders nach 1990 einen neuen, lebhaften Aufschwung, fristet der Schwabenspiegel in der Forschung immer noch ein Randdasein: Erst 2002 erschien die erste Übertragung des Schwabenspiegels ins Hochdeutsche.
Zuordnungen der einzelnen Handschriften nach Textabstammung sind wegen unterschiedlicher wechselseitiger Einflüsse nur schwer vorzunehmen. Die Existenz einer einzigen Urform wird inzwischen bezweifelt. Durchgesetzt hat sich eine Einteilung in Kurzform, Langform, Normalform und systematische Form, die redaktionelle Unterschiede in Länge, etwa durch die Auswahl der Artikel und in der Systematik, bezeichnen.
Überlegungen, die dazu führen können, die „Distanz“ zwischen Sachsenspiegel und Schwabenspiegel zu verringern und das Interesse für den Schwabenspiegel als Sammlung allen Rechts zu fördern, gehen momentan von Fragen der Interpretation des Sachsenspiegels aus: Ist der Sachsenspiegel ähnlich wie der Schwabenspiegel nicht eigentlich auch eine Kompilation unterschiedlicher Rechte, die im Gegensatz zur überkommenen Ansicht neues Recht schuf – erst recht in Kombination mit dem Magdeburger Recht?[5]
Die Relevanz des Schwabenspiegels in Ostmittel- und Osteuropa
Wie der Sachsenspiegel fand auch der Schwabenspiegel Anwendung im östlichen Europa. Ein Manuskript unbekannter Herkunft, wahrscheinlich aus dem 13.Jahrhundert, mit der Eigenbezeichnung „Codex Altenberger“, das in Hermannstadt in Gebrauch war, enthält neben anderen auch eine Kurzform des Schwabenspiegels. Die Handschrift aus Kaschau von 1430 wird dort im Stadtarchiv verwahrt. Der Schrift ist die Vermittlung über Ofen/Budapest anzumerken. Ein Manuskript mit der Eigenbezeichnung „Codex Altenberger“ entstand in Hermannstadt.
Das Stadtrechtsbuch von Sillein/Žilina (14. Jahrhundert) enthält einen Schwabenspiegel-Text, wie auch ein Breslauer Codex aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Einige Absätze des Schwabenspiegels finden sich im Ofner Stadtrecht (15. Jahrhundert).
In Prag/Praha und Hermannstadt wurde der Schwabenspiegel als Nürnberger Recht angesehen.
5. Bibliographische Hinweise
Editionen
Im 19. Jahrhundert erfolgten einige Editionen, darunter maßgebend:
- Friedrich von Lassberg (Hg.): Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und Lehen-Rechtsbuch nach einer Handschrift vom Jahr 1287. Tübingen 1840.
Zahlreiche Nachdrucke in:
- Karl August Eckhardt (Hg.): Bibliotheca Rerum Historicarum – Studia iuris Suevici. Aalen 1971−1979; Bibliotheca Rerum Historicarum. Land- und Lehnrechtsbücher, Nr. 4−8. Aalen 1972−1974; Bibliotheca Rerum Historicarum, Neudrucke, 2, 3, 5−8. Aalen 1972−1977; Bibliotheca Rerum Historicarum, Corpus iuris Europensis, 17/1 u. 17/2. Göttingen 1974; Schwabenspiegel Kurzform, Erster und Zweiter Landrechtsteil. Aalen 1960/1961.
Hochdeutscher Text:
- Harald Rainer Derschka (Hg.): Der Schwabenspiegel. Übertragen in heutiges Deutsch mit Illustrationen aus alten Handschriften. München 2002.
Literatur
- Elemér Balogh (Hg.): Schwabenspiegel-Forschung im Donaugebiet. Konferenzbeiträge in Szeged zum mittelalterlichen Rechtstransfer deutscher Spiegel. Berlin 2015 (Ius saxonico-maideburgense in Oriente 4).
- Dieter Belling: Das Strafrecht des Schwabenspiegels. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Strafrechts. Diss. masch. Tübingen 1949.
- Harald Rainer Derschka: Der Schwabenspiegel und die kognitive Entwicklung des Menschen – neue Fragen an einen alten Text. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abeilung 118 (2001), S. 100−147.
- Julius Ficker: Über einen Spiegel deutscher Leute und dessen Stellung zum Sachsen- und Schwabenspiegel. In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Bd. 23. Wien 1857, S. 115−292.
- Herman U. Kantorowicz: Zu den Quellen des Schwabenspiegels. In: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 38 (1913), S. 688−700.
- Ol’ga Keller: Sfera dejstvija „Saksonskogo i „Švabskogo zercal“ v Central’noj i Vostočnoj Evrope (Wirkungsbereich des Sachsenspiegels und des Schwabenspiegels in Mittel- und Osteuropa). In: Vestnik Polockogo Gosudarstvennogo Universiteta. Serija A Gumanitarnye Nauki (Informationsblatt der Staatlichen Universität Polock. Serie A. Geisteswissenschaften), Nr. 1 (2005), S. 27–34.
- Ernst Klebel: Studien zu den Fassungen und Handschriften des Schwabenspiegels. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 44 (1930), S. 129–264.
- Ernst Klebel: Zu den Quellen des Schwabenspiegels. In: Wilhelm Wegener (Hg.): Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann. Bd. 1. Aalen 1959, S. 273−293.
- Dirk Moldt: Sächsisch-magdeburgisches Recht bei den Siebenbürger Sachsen. In: Heiner Lück (Hg.) unter Mitarbeit von Martin Olejnicki u. Anne-Marie Heil: Von Sachsen-Anhalt in die Welt. Der Sachsenspiegel als europäische Rechtsquelle. Halle an der Saale 2015 (Signa ivris. Beiträge zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 14), S. 233−253.
- Winfried Trusen: Schwabenspiegel. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. IV, Berlin 1990, Sp. 1547–1550.
Anmerkungen
[1] László Blazovich: Die Wirkung des Schwabenspiegels in Ungarn. In: Balogh (Hg.): Schwabenspiegel-Forschung, S. 13−24.
[2] Siehe z. B. Julius Ficker: Über einen Spiegel deutscher Leute und dessen Stellung zum Sachsen- und Schwabenspiegel. In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Bd. 23, Wien 1857, S. 115–292; Carl Gustav Homeyer: Die Stellung des Sachsenspiegels zum Schwabenspiegel, Berlin 1853.
[3] Jacob Grimm: Von der Poesie im Recht. In: Zeitschrift für Rechtswissenschaft 2 (1815), S. 25–99, hier S. 36.
[4] Claudius Freiherr von Schwerin: Germanische Rechtsgeschichte. Ein Grundriss. Berlin 1936, S. 155.
[5] Peter Landau: Der Entstehungsort des Sachsenspiegels. Eike von Repgow, Altzelle und die anglo-normannische Kanonistik. In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 61 (2005), S. 73–102.
Zitation
Dirk Moldt: Schwabenspiegel. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2020. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32739 (Stand 08.09.2022).
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