Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat
1. Kurzbeschreibung
Der Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat e. V. (HFR) ist eine 1950 gegründete, bundes- und landesgeförderte Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und Gelehrten. Aufgabe und Ziel des HFR ist es, die Erforschung des östlichen Europa in europäischen Bezügen in Hinsicht auf historische, sozialwissenschaftliche und kulturelle Fragestellungen zu fördern. Der Sitz des HFR befindet sich in Marburg.
2. Aufgaben und Tätigkeit
Laut gültiger Satzung vom 22. Oktober 2010 hat der HFR die Aufgabe, "die Erforschung des östlichen Mitteleuropa in europäischen Bezügen zu fördern. Dies geschieht durch Förderung wissenschaftlicher Vorhaben sowie durch die Publikation von Forschungsergebnissen".[1] Der regionale Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt auf den historischen preußischen Ostprovinzen und den Siedlungsgebieten von Deutschen im östlichen Europa. Die Arbeit des HFR ist interdisziplinär ausgerichtet und umfasst insbesondere die Organisation internationaler Fachtagungen, die Durchführung von Forschungsprojekten, die Nachwuchsförderung und die Herausgabe wissenschaftlicher Publikationen. Bis 1993 gehörten auch die Trägerschaft und der Ausbau des vom HFR 1950 gegründeten Johann-Gottfried-Herder-Instituts (seit 2012 Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft) in Marburg zu den Aufgaben des HFR. Seit 2006 gibt der HFR die wissenschaftliche Monographien-Reihe Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa heraus.
3. Organisation
Organe des HFR sind die Mitgliederversammlung und der Vorstand, der von einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten geleitet wird. Die Zahl der ordentlichen Mitglieder, die auf Vorschlag des Vorstandes von der Mitgliederversammlung mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden, ist auf 75 begrenzt. Ferner gibt es Ehrenmitglieder, fördernde Mitglieder und korrespondierende Mitglieder (Gesamtmitgliederzahl 2013: 111) sowie Mitglieder der vom HFR gebildeten Fachkommissionen für die Sachgebiete Musikkultur, Religions- und Kirchengeschichte, Volkskunde, Sprache und Literatur, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte.
4. Geschichte und Entwicklung
Der HFR wurde 1950 als akademieähnliche Vereinigung zur Erforschung der historischen deutschen Ostgebiete und Ostmitteleuropas gegründet. Die Gründung erfolgte durch Geistes- und Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen (u. a. Hermann Aubin, Josef Hanika, Eugen Lemberg, Kurt Oberdorffer, Bruno Schier, Wilhelm Weizsäcker), die durch Herkunft und Forschungsinteresse den ehemaligen Siedlungsgebieten von Deutschen im östlichen Europa verbunden waren. Angesichts des politischen Hintergrundes der deutschen Geschichtswissenschaft generell und somit auch des HFR infolge der Tätigkeit von Wissenschaftlern in der NS-Kultur- und Wissenschaftsverwaltung bzw. ihrer bisherigen, dem nationalsozialistischen Weltbild zum Teil affinen Publikationen, war die Gründung nicht unproblematisch. Kontinuitäten bestanden durch die Biographien der im HFR aktiven Wissenschaftler sowie in der Methodik und im Vokabular. Im Kontext der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft knüpfte auch der HFR unter seinem ersten Präsidenten Hermann Aubin zunächst an Forschungsmethoden und -ergebnisse der Zwischenkriegszeit an, sodass dessen wissenschaftliche Arbeit etwa bis Mitte der 1960er Jahre auch vom Ansatz der sog. Ostforschung geprägt war. Die "Ostforschung", die ihren Ursprung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte, lieferte zwar zuverlässige Forschungsergebnisse, orientierte sich jedoch wissenschaftlich stark am Deutschtumsparadigma. Dies brachte ihr in der frühen Bundesrepublik den Verdacht des Revanchismus ein und bot Anlass für die Entstehung einer inhaltlich entgegengesetzt konzipierten "Westforschung" in Polen. Im Rahmen des sich in den 1970er Jahren entwickelnden Wissenschaftsdiskurses trug der HFR maßgeblich zur Modernisierung und Internationalisierung der historischen und kulturgeschichtlichen Ostmitteleuropaforschung bei und trat frühzeitig für transnationale Sichtweisen und Methoden ein. So knüpfte er lange vor der politischen Wende 1989/90 Kontakte zu wissenschaftlichen Institutionen in Ostmitteleuropa und baute die von ihm bis 1993 herausgegebene Zeitschrift für Ostforschung (s. u.) zu einem zentralen, international anerkannten Fachorgan aus, in dem regelmäßig auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ostmitteleuropa publizierten.
Der HFR regte die (Wieder-)Begründung von Historischen Kommissionen für die historischen deutschen Regionen und Siedlungsgebiete im östlichen Europa an und bildete innerhalb des eigenen Vereins die oben genannten Fachkommissionen, die bis in die Gegenwart jeweils eine selbständige wissenschaftliche Tätigkeit entfalten. Die Aktivitäten des HFR wurden nach seiner Gründung zunächst vom Bund, seit 1977 von Bund und Ländern finanziert.
Der HFR war bis 1993 Trägerverein des Herder-Instituts in Marburg. Eine Zäsur in der Geschichte und der Tätigkeit des HFR bildete die rechtliche Trennung vom Herder-Institut, die auf Empfehlung des Wissenschaftsrates erfolgte und am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Die Trennung hatte zur Folge, dass der HFR die Trägerschaft am Herder-Institut verlor und bislang gemeinsam durchgeführte Projekte in die alleinige Zuständigkeit des Herder-Instituts übergingen, insbesondere die gemeinsame Herausgabe von Publikationen (u. a. der vom HFR 1952 gegründeten Zeitschrift für Ostforschung, ab Bd. 44, 1995 Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, und mehrere Buchreihen). Der HFR und die sieben Historischen Kommissionen für die Geschichtsregionen im östlichen Europa mit deutschem Bevölkerungsanteil sind aktuell zusammen mit weiteren Einrichtungen Mitglieder des Trägervereins "Herder-Institut e. V." und werden über den Haushalt des Herder-Instituts weiterhin zu gleichen Teilen von Bund und Ländern gefördert.
Präsidenten des HFR
- Prof. Dr. Hermann Aubin, Historiker (1950–1959)
- Prof. Dr. Eugen Lemberg, Soziologe (1959–1963)
- Prof. Dr. Günther Grundmann, Kunsthistoriker (1963–1972)
- Prof. Dr. Kurt Dülfer, Archivar (1972–1973)
- Prof. Dr. Dr. Bernhard Stasiewski, Kirchenhistoriker (1974–1984)
- Prof. Dr. Gotthold Rhode, Osteuropahistoriker (1984–1990)
- Prof. Dr. Hans Lemberg, Osteuropahistoriker (1990–1996)
- Prof. Dr. Dietmar Willoweit, Rechtshistoriker (1996–2002)
- Prof. Dr. Klaus Roth, Volkskundler/Ethnologe (2002–2008)
- Dr. Andreas Lawaty, Historiker (2008–2011)
- Prof. Dr. Reinhard Johler, Volkskundler/Ethnologe (seit 2011)
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Jörg Hackmann: Johann Gottfried Herder-Institut und -Forschungsrat. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Michael Berg (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen. München 2008, S. 303-307.
- J. G. Herder-Forschungsrat (Hg.): Fünfunddreißig Jahre Forschung über Ostmitteleuropa. Veröffentlichungen der Mitglieder des J. G. Herder-Forschungsrates 1950–1984. Bearb. von Hermann Böhm. Marburg/L. 1985 (Bibliographien zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 1).
- Hans Lemberg (Red.): Die Arbeit des Forschungsverbundes Ostmitteleuropa in den Jahren 1990–1996. Historische Kommissionen. J. G. Herder-Forschungsrat mit seinen Fachkommissionen. Hg. als Manuskript des J. G. Herder-Forschungsrates. Marburg 1997.
- Hugo Weczerka (Hg.): Aspekte der Zusammenarbeit in der Ostmitteleuropa-Forschung. Tagung des Herder-Instituts und des J. G. Herder-Forschungsrates am 22./23. Februar 1994. Marburg 1996 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 1).
- Hugo Weczerka: Johann Gottfried Herder-Forschungsrat. In: Erwin Oberländer (Hg.): Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945–1990. Stuttgart 1992 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 35), S. 256-275.
- Hugo Weczerka: 1950. 50. Gedenkjahr. Gründung des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates und des Johann Gottfried Herder-Instituts in Marburg an der Lahn. In: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hg.): Ostdeutsche Gedenktage 2000. Persönlichkeiten und historische Ereignisse. Red.: Peter Mast. Bonn 1999, S. 384-392.
Buchreihe
- Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, München (2006ff.)
Weblinks
- www.herder-forschungsrat.de/forschungsrat/ (Internetseite des HFR)
Anmerkungen
[1] Vgl. die Satzung des HFR vom 22. Oktober 2010. URL: www.herder-forschungsrat.de/forschungsrat/ (Abruf 07.07.2013)
Zitation
Matthias Weber: Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53981.html (Stand 17.07.2013).
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