Kulturautonomie
1. Fremdsprachige Entsprechungen
engl. cultural autonomy; franz. autonomie culturelle; span. autonomía cultural; ital. autonomia culturale; ungar. kulturális autonómia
2. Definition
Unter Kulturautonomie versteht man die autonome Selbstverwaltung eines Volkes, eines Landes, einer gesellschaftlichen Untergruppe, einer Minderheit u. Ä. in kulturellen Fragen. Dazu zählen identitätsstiftende Elemente wie Sprache, Erziehung, Bildung, Sitten und Bräuche. Diese werden dabei in eigenen Schulen, Kultureinrichtungen und Publikationsforen gefördert und bewahrt. Auf dieser Grundlage können ethnische Minderheiten kulturelle Werte und Normen nicht nur selbst festlegen, sondern auch frei entfalten.
Kulturautonomie im weiteren Sinne meint die Kulturhoheit einzelner Länder eines Bundesstaates, also das Recht, kulturelle Angelegenheiten unabhängig vom Gesamtstaat zu regeln. So besitzen die deutschen Bundesländer die Kulturautonomie, die nicht durch Einspruchsrecht der Bundesorgane eingeschränkt ist.
3. Diskurse/Kontroversen
Viele der grundlegenden Ideen eines dezentralen Modells der Kulturautonomie gehen auf die Austro-Marxisten um Karl Renner (1870–1950) zurück. Renner forderte, dass die Minderheit nicht der Mehrheitsbevölkerung unterworfen sein dürfe. Der Staat solle im kulturellen Bereich nur Rahmenkompetenzen haben, wobei nicht alle kulturpolitischen Zuständigkeiten auf die Minderheit übertragen werden müssten. Kulturautonomie könne beispielsweise in der schulischen Bildung ausgestaltet werden. In jedem Fall müsse sich die Eigenständigkeit im Sinne der Kulturautonomie auf einen Bereich erstrecken, der für die Wahrung und die Entwicklung des kulturellen Eigenlebens bedeutsam ist.
Im Nationalitätenstaat bedarf es nach Renner zusätzlich einer politischen Teilhabe der Minderheit. Eine wirkliche Integration der Minderheit im "fremdnationalen Staat" könne nur gelingen, wenn Kulturautonomie und verhältnismäßige Mitbestimmung der Minderheit zusammenkommen. Dabei solle der minoritäre Personenverband als eine öffentlich-rechtliche Körperschaft ausgestaltet werden, deren Organisations- und Mitgliedsstruktur durch die Gesetzgebung rahmenhaft vorgegeben und die unter staatlicher Rechtsaufsicht tätig ist.
Durch die Abgrenzung von der Mehrheitskultur im Gesamtstaat können aber auch Ambivalenzen auftreten. Die Anwendung spezifischer kultureller Rechte für Minderheiten ist politisch nicht unumstritten. Gerade die umfassenden Kompetenzen für Minderheiten werden häufig kritisiert. Eine dauerhafte Trennung der ethnischen Gruppen, so argumentieren Kritiker, führe zu einer höheren Distanz und Entfremdung der Bevölkerungsteile, sodass eine Annäherung unterschiedlicher Gruppen durch die Kulturautonomie erschwert werde. Bei der Wahrung der kulturellen Identität im Rahmen der Kulturautonomie sei daher der Gedanke der Integration in dem Gesamtstaat zu berücksichtigen. Die Ausgestaltung der Kulturautonomie finde schließlich dort ihre Grenzen, wo der Schutz vor kultureller Assimilierung zu Segregations- bzw. Sezessionsbestrebungen führe.
Die Kulturautonomie kann innerhalb verschiedener Autonomiekonzepte verwirklicht werden. Dabei wird die Kulturautonomie vorwiegend mit der Personalautonomie in Zusammenhang gebracht. Die Personalautonomie ist nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden wie die Territorialautonomie, sondern knüpft an die Minderheitenangehörigen als Personen an. Sie ist dann gegeben, wenn die Minderheit als öffentlich-rechtlicher Personenverband verfasst ist und wenn diesem Verband bestimmte, für die Bewahrung ihrer minoritären Identitäten wesentliche (staatliche) Kompetenzen zur eigenständigen Regelung und Ausführung übertragen werden. Die Personalautonomie kann auch bei verstreut lebenden Minderheiten eingeführt werden; da sie hauptsächlich in kulturellen Angelegenheiten zum Tragen kommt, wird sie häufig mit Kulturautonomie gleichgesetzt.
Beispiele für Staaten mit Kulturautonomie sind Ungarn und Estland, wo rechtliche Grundlagen geschaffen wurden, die sich an einer Personalautonomie der Minderheiten in kulturellen Angelegenheiten orientieren. In Ungarn wurde mit dem Minderheitengesetz von 1993 die Ausübung der Kulturautonomie schwerpunktmäßig bei den Landesselbstverwaltungen angesiedelt. So können Minderheiten kulturelle Einrichtungen aller Art (etwa Bibliotheken, Sammlungen, Theater, Verlage, Forschungsinstitute, insbesondere aber Grund-, Mittel- und Hochschulen) unterhalten, über die Nutzung der ihnen zugeteilten Rundfunkfrequenzen bzw. Sendezeiten bestimmen und die landesweiten Feiertage der jeweiligen Minderheit festlegen. Eine umfassende minderheitenspezifische Regelung auf einfachgesetzlicher Ebene beinhaltet das estnische Gesetz zur Kulturautonomie der nationalen Minderheiten aus dem Jahr 1993, das den in Estland ansässigen ethnischen Gruppen das Recht zuspricht, sich als solche zu konstituieren. Anknüpfend an das estnische Minderheitengesetz von 1925 können Vereine oder Verbände der russischen, der deutschen, der jüdischen und der (praktisch kaum noch vorhandenen) schwedischen Minderheit kraft Gesetzes - sofern sie mindestens 3.000 Angehörige nachweisen - Kulturselbstverwaltungen errichten.
4. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Anna-Mária Bíró, Petra Kovács (Hg.): Diversity in Action. Local Public Management of Multi-ethnic Communities in Central and Eastern Europe. Budapest 2002.
- Dieter Blumenwitz: Volksgruppen und Minderheiten. Politische Vertretung und Kulturautonomie. Berlin 1995.
- Georg Brunner: Autonomiekonzepte zum Minderheitenschutz – Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Gerrit Manssen, Boguslav Banaszak (Hg.): Minderheitenschutz in Mittel- und Osteuropa. Frankfurt a. M. 2001.
- Herbert Küpper, Georg Brunner: European Options of Autonomy: A Typology of Autonomy Models of Minority Self-Governance. In: Kinga Gál (Hg.): Minority Governance in Europe. Budapest 2002.
- Karl Renner: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich. Erster Teil: Nation und Staat. Leipzig, Wien 1918.
Zitation
Christoph Schnellbach: Kulturautonomie. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32718 (Stand 04.09.2012).
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