Zeitzeugen

1. Begriff

Fremdsprachige Entsprechungen

engl. contemporary witness; franz. témoin de son temps

2. Definition

Als Zeitzeugen bezeichnet man Personen, die über die Zeitgeschichte, also die "Epoche der Mitlebenden"[1], Auskunft geben können. Als Träger von Erfahrung fungieren sie dabei weniger als Zeugen eines äußeren Geschehens wie Tat- oder Augenzeugen, sondern mehr als autorisierende Instanz für "eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit",[2] als Verkörperung des Geschehens, über das sie sprechen.[3]

3. Geschichte und Forschung

Den Miterlebenden kommt im Bereich der Kultur und Geschichte der Deutschen in und aus dem östlichen Europa in mehrfacher Hinsicht eine besondere Funktion zu. Bereits unmittelbar nach dem Verlust der deutschen Reichsgebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze bzw. nach der Aussiedlung der Deutschen aus Siedlungsgebieten, in denen Deutsche oft über Jahrhunderte hinweg als Angehörige einer nationalen Minderheit auf fremdem Staatsgebiet gelebt hatten, bediente sich die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa[4] dieser Bevölkerungsgruppe in großem Umfange als Zeitzeugen. Die Aussagen der Zeitzeugen, die in Form schriftlich verfasster Berichte, beglaubigt durch eidesstattliche Erklärungen und Aussagen Dritter, der Dokumentation als breite Quellenbasis beigegeben und veröffentlicht wurden, dienten in erster Linie der Rekonstruktion der Vorgänge von "Flucht und Vertreibung" im Hinblick auf spätere Friedensverhandlungen[5] und weisen sowohl formal-inhaltlich wie intentional (seitens des Auftraggebers) noch die unmittelbare Nähe zur Zeugenaussage im juristischen Sinne auf. Das vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte angeregte und finanzierte Großunternehmen führte den Zeitzeugen darüber hinaus in die bundesdeutsche Zeitgeschichtsforschung ein, ohne den Begriff explizit zu verwenden. Dieser kam erst Mitte der 1970er Jahre auf und wurde zunächst synonym mit dem Begriff "Zeitgenosse" benützt.

Im Kontext der Oral History sowie der Biographie- und Erzählforschung erhielten die Aussagen von Zeitzeugen in der Folgezeit den Status von Quellen, wobei die drei wichtigsten mit Zeitzeugen arbeitenden Disziplinen aufgrund ihrer Fachtraditionen und unterschiedlichen Forschungsansätze abweichende Schwerpunktsetzungen vornahmen: So standen in der Geschichtswissenschaft in der Oral History die Ereignis- und Institutionengeschichte im Vordergrund, in der soziologischen Biographieforschung der Lebensverlauf und die Lebensverlaufsanalyse und in der volkskundlichen Erzählforschung Fragen der formalen, gattungsmäßigen und motivischen Gestaltung des Erzählten selbst, der Performanz (Erzählsituation) und Tradierung. Mittlerweile sind die Grenzen fließend, interdisziplinäre Forschungsansätze und Methoden eher die Regel als die Ausnahme.

Seit den 1980er Jahren, in denen im Kontext allgemeinerer Migrationsforschung auch das Thema "Flucht und Vertreibung" nach einem deutlichen Nachlassen des Interesses ab Mitte der 1960er Jahre wieder aufgegriffen wurde, gilt das Interesse der Forschung neben der Ereignisgeschichte verstärkt erfahrungs- und mentalitätshistorischen Fragen. Darüber hinaus gerieten das Alltagsleben vor 1939–1945 und der unmittelbaren Nachkriegszeit, Fragen der Integration und der Erinnerungskultur sowie Stereotypen und Erzählmuster in den Blick der Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, vor allem der Volkskunde/Europäischen Ethnologie/Empirischen Kulturwissenschaft.

Derzeit erleben wir in Deutschland eine Konjunktur des Zeitzeugen, die oftmals mit dem bevorstehenden Verschwinden der sog. "Erlebnisgeneration" begründet wird und nach Anstrengungen zur Dokumentation von Zeitzeugenaussagen "in letzter Sekunde" verlangt; diese Auffassung beruht auf einem Verständnis von Zeitgeschichte, das im Wesentlichen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasst. Daher ist die Zahl derer, die aus eigenem Erleben über Nationalsozialismus, Holocaust, Krieg, Flucht und Vertreibung erzählen können, mittlerweile so gering, dass vermehrt auf Zeitzeugen zurückgegriffen wird, die diese Zeit als Kinder und Jugendliche erlebt haben bzw. "Erinnerungen aus zweiter Hand" wiedergeben.[6]

4. Diskussionen und Kontroversen

Ausgehend von der Tatsache, dass Zeitzeugenaussagen stets Produkte komplexer kognitiver, kommunikativer und sozialer Vorgänge sind, wird ihr Aussagewert unterschiedlich bewertet. Während in populärwissenschaftlichen und publizistischen Zusammenhängen teilweise recht unkritische Gleichsetzungen von Zeitzeugenberichten und Ereignissen im Sinne eines "So-ist-es-gewesen" vorkommen, verlangt die wissenschaftliche Quellenkritik einen problemorientierten und kritischen Umgang mit Zeitzeugenaussagen. Dieser schließt die Berücksichtigung der konkreten Entstehungsbedingungen ebenso ein wie die Wirkung öffentlicher, medialer, gruppenbezogener Diskurse und gesellschaftlicher Debatten, die Zeitzeugenaussagen als von der Gegenwart aus vorgenommene Darstellung und Bewertung immer in unterschiedlichem Maße beeinflussen. Dabei bereitet die vielfache Überformung von Erinnerungen durch familiäre, gesellschaftliche und gruppenbezogene Erzählungen und Deutungen mit zunehmendem Abstand zum Ereignis ebenso gravierende heuristische Probleme wie die Erwartungen an die Zeitzeugen, sowohl die unausgesprochenen (etwa durch die Auswahl der Personen) als auch die ausgesprochenen, die an sie herangetragen werden und denen sie meist zu entsprechen versuchen.

Zeitzeugen werden in medialen Kontexten wie Geschichts-Dokumentationen im Fernsehen, in zeithistorischen Ausstellungen via Hör- bzw. Filmstation oder "live" in pädagogischen Zusammenhängen (Schulen, Gedenkstätten) eingesetzt. Dabei stehen das Erzeugen von Empathie, die Auflockerung der Inhalte durch lebendiges Erzählen sowie deren Beglaubigung durch "das persönliche respektive personalisierte Zeugnis"[7] im Mittelpunkt.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Hans Henning Hahn, Eva Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010.
  • Hans Günter Hockerts: Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder. In: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98127, bes. 108ff.
  • Heinke M. Kalinke: Zur Geschichte und Relevanz von Selbstzeugnissen für die Alltags-, Mentalitäts- und Erfahrungsgeschichte der Deutschen in und aus dem östlichen Europa. In: Dies. (Hg.): Brief, Er­zählung, Tagebuch. Autobiographische Dokumente als Quellen zur Kultur und Ge­schichte der Deutschen in und aus dem östlichen Europa. Freiburg 2000 (Schriftenreihe des Johannes-Künzig-Institutes 3), S. 722.
  • Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953) 1, S. 18.
  • Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten. In: Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2010, S. 1332.
  • Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002 (Überarb. Neuauflage 2005).
  • Dorothee Wierling: Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – drei Geschichten und zwölf Thesen. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 21 (2008) 1, S. 2836.

Weblinks

  • www.bkge.de/43010.html (Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Projektseite)

Anmerkungen

[1] Rothfels: Zeitgeschichte, S. 2.

[2] Sabrow: Zeitzeuge, S. 14.

[3] Vgl. Wierling: Zeitgeschichte, S. 30.

[4] Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. In Verbindung mit Werner Conze [ab Bd. III], Adolf Diestelkamp [bis Bd. II], Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder. Hg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Bonn 1953–1962, Neudruck München 1984. Bd. I, 1–2: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Bonn 1953. Bd. I, 3: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Polnische Gesetze und Verordnungen 1944-1955. Bonn 1960. Bd. II: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, Bonn 1956. Bd. III: Das Schicksal der Deutschen in Rumänien. Bonn 1957. Bd. IV, 1–2: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei. Bonn 1957. Bd. V: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien. Bonn 1961. 1. Beiheft: Ein Tagebuch aus Pommern 1945–1946. Aufzeichnungen von Käthe von Normann. Bonn 1955. 2. Beiheft: Ein Tagebuch aus Prag 1945–1946. Aufzeichnungen von Margarete Schell. Bonn 1957. 3. Beiheft: Ein Bericht aus Ostpreußen. Nachdruck 1984.

[5] Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa". In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46(3) (1998), S. 345–389.

[6] Ein aktueller Trend geht dahin, fehlende Zeitzeugen durch Schauspieler zu ersetzen, um die Verkörperung der Aussage zu erreichen. Siehe Rainer Gries: Vom historischen Zeugen zum professionellen Darsteller. Probleme einer Medienfigur im Übergang. In: Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2010, S. 49–70.

[7] Gries: Vom historischen Zeugen, S. 50.

Zitation

Heinke M. Kalinke: Zeitzeugen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32752 (Stand 18.06.2021).

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