Lübisches Recht

1. Definition und Begriff

„Lübisches Recht“ bezeichnet jenes (zuerst lateinisch, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts auch mittelniederdeutsch) schriftlich fixierte Recht, das in der Stadt Lübeck und jenen Städten galt, die mit Lübischem Recht bewidmet wurden. Hinzu treten die von Lübeck ausgehenden Modifizierungen und Lübecker Ratsurteile.

Die Kodifikation ging vom Lübecker Rat aus und wurde auch dort kontrolliert; oft stehen die die Bewidmung bestätigenden Urkunden oder Aufzeichnungen (wie z. B. für Kolberg/Kołobrzeg[1] und Elbing/Elbląg[2]) den Rechtstexten voran. Die Übertragung auf eine Tochterstadt erfolgte jedoch zumeist mit Einschränkungen, die vom jeweiligen Landes- beziehungsweise Stadtherrn ausgingen. Besonders betraf dies den Rechtszug nach Lübeck, der in der Regel vollständig untersagt wurde; zumeist wurde dann eine eigene Appellationsinstanz eingesetzt (in Elbing z. B. die „Vier Gerichtsbänke“). Auch einzelne Regelungen konnten von solchen Änderungswünschen betroffen sein. Grund für diese Sonderregelungen war unter anderem, dass das Urteil des Lübecker Rates bei Rechtsnachsuchen bindenden Charakter hatte und somit eine zu große Einflussnahme Lübecks auf die Tochterstadt befürchtet wurde.

Die älteste Nennung des Lübischen Rechts erfolgte 1188 in der Handfeste für die Neustadt Hamburg als ius Lubicense. Spätestens seit dieser Zeit war „Lübisches Recht“ ein Begriff, der keiner näheren Erläuterung mehr bedurfte.

Abweichend von der oben genannten Definition wird allein in der Stadt Lübeck geltendes Recht als „Lübeckisches Recht“ bezeichnet.

2. Zur Geschichte und Verbreitung des Lübischen Rechts

Die genaue Herkunft des Lübischen Rechts lässt sich nicht ermitteln. Eine früher häufig diskutierte Ableitung aus dem Soester Recht konnte nicht nachgewiesen werden. Eher kommen regionale Rechte, zum Beispiel das Schleswiger Recht, in Frage, vor allem aber wohl eigene Entwicklungen. Erstmals greifbar wird das Lübische Recht in dem heute verschollenen Lübischen Fragment von ca. 1230/1240. Etwa zu der Zeit, als Lübeck 1226 freie Reichsstadt wurde, setzte auch die schriftliche Überlieferung des Lübischen Rechts ein. Die ältesten vollständigen Handschriften sind lateinisch und datieren aus den 1240er Jahren; darunter befinden sich auch solche, die der schlesisch-polnischen Fassung zugerechnet werden.[3] In mittelniederdeutscher Fassung wird das Lübische Recht ab etwa 1275 (Elbinger Kodex) greifbar.[4]

Durch Spruchtätigkeit, aber auch durch Ergänzung wurde das Recht beständig erweitert und verfeinert. Eine durchgreifende Umgestaltung und Systematisierung erfuhr es 1299 durch Albrecht von Bardewik (gest. 1333; Bardewiksche Rezension). Die letzte große Erneuerung war dann das revidierte Lübische Recht von 1586.[5] Im späten 15. und im 16. Jahrhundert kam es zudem zu einer Vermischung mit dem Hamburgischen Recht.

Lübisches Recht war spezifisches Stadtrecht und unterschied sich insbesondere in dieser Ausrichtung vom Sächsisch-Magdeburgischen Recht. Der Rat war die beherrschende Instanz in der Stadt und beeinflusste maßgeblich Rechtsetzung und -sprechung. Da Städte mit Lübischem Recht vom Handel und speziell vom Fernhandel lebten, war das Recht unter anderem darauf ausgerichtet, Handelshemmnisse zu vermeiden. Das führte zum Beispiel im Erbrecht dazu, dass die Erbmasse möglichst nicht geteilt wurde und dass selbsterworbenes (im Gegensatz zu ererbtem) Gut ohne Einwilligung der Erben als Pfand eingesetzt werden konnte. Auf diese Weise konnte Kapital in größerem Umfang für den Handel zur Verfügung gestellt werden.

Ein weiterer Teil des Lübischen Rechts betraf das Schiffrecht, mit dem besitzrechtliche Ansprüche und daraus ableitbare Forderungen an Schiff und Ladung geklärt wurden. Jedoch scheinen die (anfangs wenigen) Paragraphen nur Spezialfälle zu regeln.[6] Seit dem 15. Jahrhundert versuchte Lübeck zusammen mit anderen Hansestädten, ein gemeingültiges Seerecht zu entwickeln.[7]

Das Verbreitungsgebiet des Lübischen Rechts reichte von Tondern/Tønder im Westen bis Narwa/Narva im Osten und umfasste somit hauptsächlich die Regionen an der südlichen Ostseeküste. Das Hansekontor im Peterhof zu Nowgorod/Novgorod hatte eigene Statuten, die sogenannten Schragen. In diese waren unter anderem Regelungen des Lübischen Rechts aufgenommen, doch war der Peterhof eine Exklave in der Stadt, sodass die rechtlichen Auswirkungen über den Peterhof hinaus gering waren.

Neben Deutschland weist heute Polen die größte Anzahl einst lübischrechtlicher Städte auf, von denen die meisten auf deutsche Gründungen zurückgehen (Beispiele sind neben Elbing [Lübisches Recht seit 1246] und Kolberg [1255] die Städte Cammin/Kamień Pomorski [1274], Braunsberg/Braniewo [1284] und Stolp/Słupsk [1310]). In einigen wichtigen Hansestädten wie Riga/Rīga, Königsberg/Kaliningrad oder Danzig/Gdańsk galt kein Lübisches Recht.

Seit dem 16. Jahrhundert existierte das Lübische Recht weitgehend als Partikularrecht. Abgelöst wurde es in Preußen durch die Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts 1792 und im Deutschen Reich mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900. In den estnischen Städten blieb es noch bis 1940 in Kraft.

3. Diskurse/Kontroversen

Ab dem 18. Jahrhundert ist das Lübische Recht auch Gegenstand gelehrter Betrachtungen, die bis weit ins 19. Jahrhundert anhalten und zumeist der Einordnung des Lübischen Rechts als Partikularrecht in die jeweils übergeordneten Rechte gelten. Als rein historischer Gegenstand wird es erst seit dem 20. Jahrhundert wahrgenommen. Besonders gut erforscht ist die Situation für Reval/Tallinn und Estland.[8]

Über die engere wissenschaftliche Diskussion hinaus wird auf das Lübische Recht auf der einen Seite insbesondere unter dem Aspekt der Konstituierung der selbstverwalteten Gemeinde Bezug genommen, um damit auf die Bedeutung einer regionalen Autonomie in Zeiten der Globalisierung hinzuweisen. Auf der anderen Seite wird ein Zusammenhalt dieser Gemeinden über Staatsgrenzen hinweg betont, indem auf den Zusammenhang Lübeck – Lübisches Recht – Hanse verwiesen wird.[9]

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Wolfgang Drechsler (Hg.): Die selbstverwaltete Gemeinde. Beiträge zu ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Estland, Deutschland und Europa. Anläßlich des 750jährigen Jubiläums der Verleihung Lübischen Rechts an Reval (Tallinn). Berlin 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht 784).
  • Friedrich Ebel: Unseren fruntlichen grus zuvor. Deutsches Recht des Mittelalters im mittel- und osteuropäischen Raum. Kleine Schriften. Hg. von Andreas Fijal, Hans-Jörg Leuchte, Hans-Jochen Schiewer. Köln, Weimar, Wien 2004.
  • Wilhelm Ebel (Hg.): Lübecker Ratsurteile 1–4. Göttingen, Berlin, Frankfurt/M. 1955–1967.
  • Wilhelm Ebel: Lübisches Recht. Erster Band. Lübeck 1971 (mehr nicht erschienen).
  • Friedrich Frensdorff: Das lübische Recht nach seinen ältesten Formen. Leipzig 1872.
  • Johann Friedrich Hach (Hg.): Das alte lübische Recht. Lübeck 1839.
  • Gustav Korlén: Norddeutsche Stadtrechte II. Das mittelniederdeutsche Stadtrecht von Lübeck nach seinen ältesten Formen. Lund 1951 (Lunder Germanistische Forschungen 23).
  • Angelika Lampen: [Art.] Lübisches Recht. In: Burkhart Wachinger, zus. mit Gundolf Keil, Kurt Ruh (†), Werner Schröder, Franz-Josef Worstbrock (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Bd. 11: Nachträge und Korrekturen. Berlin, New York 2004, Sp. 932–938.
  • Heiner Lück, Matthias Puhle, Andreas Ranft (Hg.): Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2009 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 6).
  • Arthur Methner: Das Lübische Recht in Memel. In: Altpreußische Forschungen 10 (1933), S. 262-298.
  • Arthur Methner: Die älteste deutsche Handschrift des Lübischen Rechts. In: Elbinger Jahrbuch 14 (1937), S. 59–110.

Anmerkungen

[1] Peter Jancke (Hg.): Das Kolberger Rechtsbuch. Der Kolberger Kodex des Lübischen Rechts von 1297. Faksimiledruck der verschollenen Handschrift mit hochdeutscher Übersetzung und Glossar. Hamburg 2005 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Kolberg und des Kreises Kolberg-Körlin 32).

[2] Vgl. Edward Carstenn: Die Elbinger Handschriften des Lübischen Rechts. In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 73 (1935), S. 139–183; Ralf G. Päsler: Deutschsprachige Sachliteratur im Preußenland bis 1500. Untersuchungen zu ihrer Über­lie­ferung. Köln, Weimar, Wien 2003 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 2), S. 224–238.

[3] Friedrich Ebel, Renate Schelling: Das lateinische lübische Recht in der schlesisch-polnischen Fassung des 13. Jahrhunderts. In: Ebel: Unseren fruntlichen grus zuvor, S. 252–323.

[4] Zu den deutschsprachigen Handschriften des Lübischen Rechts vgl. den Handschriftencensus (Abruf 08.01.2015, 17.12.2021).

[5] Der Kayserlichen Freyen vnd des Heiligen Reichs-Stadt Lübeck Statuta vnd Stadt Recht. Auffs Newe vbersehen / Corrigiret / vnd aus alter Sechsischer Sprach in Hochdeutsch gebracht. Lübeck 1586 (Digitalisat hier; Abruf 08.01.2015).

[6] Carsten Jahnke: Hansisches und anderes Seerecht. In: Albrecht Cordes (Hg.): Hansisches und hansestädtisches Recht. Trier 2008 (Hansische Studien 17), S. 41–67.

[7] Götz Landwehr: Das Seerecht der Hanse (1365–1614). Vom Schiffordnungsrecht zum Seehandelsrecht. Ham­burg 2003 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V., Hamburg 21,1).

[8] F[riedrich] G[eorg] von Bunge (Hg.): Die Quellen des Revaler Stadtrechts. Bd. 1–2. Dorpat 1844–1846; Der Revaler Kodex des lübischen Rechts 1282. Transkription und Übersetzung ins Estnische von Tiina Kala. Tallinn 1998; Tiina Kala: Das Geschriebene und das Mündliche. Das lübische Recht und die alltägliche Rechtspflege im mittelalterlichen Reval. In: Cordes (Hg.): Hansisches und hansestädtisches Recht (Anm. 6), S. 91–112.

[9] Vgl. zum Beispiel die Beiträge in Drechsler: Die selbstverwaltete Gemeinde.

Zitation

Ralf G. Päsler: Lübisches Recht. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32867 (Stand 17.12.2021).

Nutzungsbedingungen für diesen Artikel

Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie: ome-lexikon@uol.de

Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.

OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page