Tarnów

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Tarnow oder Tarnau (veraltet)

Amtliche Bezeichnung

poln. Tarnów

Anderssprachige Bezeichnungen

tsch. Tarnov oder Trnov; lat. Tarnovia

Etymologie

Der Name Tarnów leitet sich von dem polnischen Wort für Schlehenstrauch (poln. tarnina) ab, welcher einst die umliegenden Hügel dicht bewuchs (so der polnische Historiograph Jan Długosz [1415–1480]). Eine Legende spricht vom Ritter Tarn, der hier eine Siedlung gründete und als ihr Besitzer zum Stammvater des Leliwita-Geschlechts wurde.

2. Geographie

Lage

Tarnów liegt auf 50° 00′ 45′′ nördlicher Breite, 20° 59′ 18′′ östlicher Länge, 84 Kilometer östlich der Hauptstadt der Woiwodschaft, Krakau/Kraków.

Topographie

Die Stadt liegt auf der Tarnower Hochebene (Płaskowyż Tarnowski) am Fluss Biała mit seinem Nebenfluss Wątok und am Dunajetz (auch Dunajez oder selten Dohnst; poln. Dunajec).

Region

Staatliche und administrative Zugehörigkeit

Polen. Tarnów ist eine kreisfreie Stadt in der Woiwodschaft Kleinpolen (województwo małopolskie) und seit 1783 Sitz des Bistums Tarnów.

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Das Stadtwappen zeigt einen nach oben geöffneten Halbmond, über dem sich ein sechsstrahliger goldener Stern befindet, beides auf blauem Hintergrund.

Mittelalter

1124 erwähnte der päpstliche Gesandte Kardinal Aegidius von Tusculum (1080–1140) zum ersten Mal schriftlich den Namen Tarnów. Am 7. März 1330 erhielt Tarnów die Stadtrechte nach Magdeburger Recht.[1] Mit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts begann das Goldene Zeitalter der Stadt. Der Großhetman der polnischen Krone, Jan Amor Tarnowski (1488–1561), brachte Renaissance-Künstler und -Baumeister in die Stadt.

Frühe Neuzeit

1547 wurden die Tarnower Güter zur Grafschaft. Zum Gutsherrn wurde 1570 Fürst Konstanty Ostrogski (1526–1608). Bald darauf wurden sie aber parzelliert und kamen in den Besitz der Magnatenfamilien Zamojski und Lubomirski. Die Parzellierung, Interessenkonflikte der einzelnen Stadtherren, Brände (z.B. 1617), Seuchen (z.B. 1652) sowie Plünderungen durch die Schweden (1655 und 1656) trugen allmählich zum Verfall der Stadt bei. 1662 hatte Tarnów nur noch 768 Einwohner. Die jüdische Gemeinde gewann dafür immer mehr an Bedeutung. Sie besaß eine Synagoge und einen eigenen Friedhof.

Nach dem Tod Aleksander Dominik Lubomirskis (1693–1720) ging Tarnów mit den anliegenden Gütern 1723 in den Besitz Paweł Karol Sanguszkos (1680–1750), Fürst und künftiger Großmarschall Litauens, über. Die Sanguszkos lebten in Tarnów bis 1945.

Galizien

1772 wurde Tarnów infolge der Ersten Teilung Polens der Habsburgermonarchie einverleibt (Königreich Galizien und Lodomerien). Im selben Jahr wurde die Stadt zum Garnisonsstandort, 1782 zum Kreis (cyrkuł). Die österreichische Obrigkeit nahm gravierende Eingriffe in die urbane Struktur der Stadt vor (u.a. Abbau der Schutzbefestigungen und neue Straßennetzgestaltung). 1838 wurde das Theologische Seminar gegründet. 1846 brach unter Führung von Jakub Szela (1787–1860) ein Bauernaufstand aus („rzeź galicyjska“ = „galizischer Massenmord“), der durch Hunger und Not auf dem Lande wie auch durch die Propaganda der österreichischen Administration hervorgerufen worden und gegen die Leibeigenschaft gerichtet war.

Das 19. Jahrhundert war auch durch die Entwicklung von Industrie und Wirtschaft gekennzeichnet: Die Stadt wurde mit 21.779 Einwohnern (1870) bald zur drittgrößten Stadt in Galizien. 1910 wurde der Bau einer modernen Wasserversorgung und Kanalisation vollendet; fertiggestellt wurden auch die Elektrizitätswerke und das neue Bahnhofsgebäude. 1911 wurde eine Straßenbahnlinie eröffnet. Es entstanden monumentale Sakralbauten, moderne öffentliche Gebäude (Bibliotheken, Theater, Banken, Schulen), und das Vereinsleben blühte.

Am 5. Mai 1915, nach der Offensive der österreichischen Truppen, wurde die russische Besatzung aus der Stadt zurückgedrängt. Am 14. Oktober 1918 verkündete der Stadtrat die „tatsächliche Entstehung des unabhängigen Polen“, und Tarnów wurde der Warschauer Regierung unterstellt.

Zeitgeschichte

Die allmähliche wirtschaftliche Wiederbelebung der Stadt in der Zwischenkriegszeit wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges empfindlich gestört. Am 7. September 1939 trafen die Wehrmachtstruppen in Tarnów ein. Es begannen die ersten Deportationen der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Von den 25.000 jüdischen Einwohnern wurde ein Viertel im Ghetto umgebracht; die Überlebenden wurden in Vernichtungslager, unter anderem nach Auschwitz und Bełżec, gebracht und dort größtenteils ermordet.

Am 18. Januar 1945 wurde Tarnów von der Roten Armee befreit. 1975–1997 war die heutige Kreisstadt Tarnów Hauptstadt einer Woiwodschaft.

Bevölkerungsentwicklung

Die Einwohnerzahl Tarnóws betrug im 14. Jahrhundert etwa 800; ein Fünftel davon waren Deutsche. Im 15. Jahrhundert verließen die meisten Deutschen die polnische Stadt; ein Teil von den Verbliebenen wurde polonisiert. Am Ausgang des 16. Jahrhunderts lebten hier unter anderem auch protestantische Schotten, Italiener und Ungarn. Eine deutliche Bevölkerungszunahme ist erst in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts zu verzeichnen. Nach der Einverleibung der Stadt in die Habsburgermonarchie 1772 waren in Tarnów österreichische Militärtruppen stationiert. Mit der neuen Stadtherrschaft kamen einige deutsche Kolonisten und vor allem Geistliche, Ingenieure, Offiziere und Beamte österreichischer, deutscher und tschechischer Herkunft nach Tarnów.[2] 1777 erreichte die Einwohnerzahl 3.013 (darunter etwa 900 Juden), acht Jahre später waren es schon 5.785 Einwohner. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zählte Tarnów 36.571 Einwohner.[3] Heute hat die Kreisstadt etwa 120.000 Einwohner.

JahrEinwohner[4]
16. Jh.1.200
1655200
187021.779 (darunter etwa 45 % Juden)
193955.000 (darunter etwa 45 % Juden)
194633.108
195558.796
196577.799
197597.805
1985115.857
1990121.216
1996122.359
2007116.118

Wirtschaft

Tarnów war im Mittelalter ein bedeutendes Handels- und Handwerkszentrum mit einigen Zünften (u.a. Maurerhandwerk und Goldschmiedekunst). Am Ende des 16. Jahrhunderts waren in der Stadt mehr als 100 Handwerker tätig.

Mit der Gründung der Maschinen- und Werkzeugfabrik von Franciszek Eliasiewicz (1815–1871) 1852 hatte Tarnów teil an den Industrialisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts. 1856 erhielt die Stadt eine Eisenbahnverbindung mit Krakau und 1862 mit Lemberg/L’viv/Lwów.

In der Zwischenkriegszeit brachte insbesondere der Bau der Stickstoffwerke (Zakłady Azotowe) in Tarnów-Mościce 1927–1928 einen wirtschaftlichen Aufschwung. Nach dem Krieg, 1949, entstanden Elektromotorenwerke, 1951 wurden die ehemaligen Schienenfahrzeugreparaturwerke zu Mechanik-Werken umgestaltet, die Waffen, Kühlgeräte und Werkzeugmaschinen produzierten. Es entwickelten sich zahlreiche Betriebe (u.a. Konfektion, Obst- und Gemüseverarbeitung, Waschmaschinenfabrik „Pralfa“).

Seit 2001 lockt die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone ausländische Investoren in die Stadt: Der Farben- und Lackhersteller Becker hat seine Niederlassung in Tarnów und die Autoreifenfabrik American Goodyear ihr Logistik-Zentrum. Das größte Unternehmen sind jedoch nach wie vor die Stickstoffwerke; zu den größeren Arbeitgebern in der Umgebung gehören auch die Elektromotoren-Fabrik Tamel und die Mechanik-Werke.

Besondere kulturelle Institutionen

In Tarnów finden regelmäßig Film-, Theater- und Musikfestspiele statt, darunter seit 1987 das zweitälteste Filmfestival in PolenTarnowska Nagroda Filmowa“ (Tarnower Filmpreis), alle zwei Jahre im Sommer die Kammerfestspiele „Bravo Maestro“ und das „Międzynarodowy Festiwal Muzyki Odnalezionej“ (Internationales Festival der Wiedergefundenen Musik),[5] das unter der Schirmherrschaft des Staatspräsidenten Polens und des Brüsseler Ausschusses für Kultur und Bildung ins Leben gerufen wurde. Das Festival setzt sich zum Ziel, europäische Musikwerke zu präsentieren, die Jahrzehnte und manchmal sogar Jahrhunderte lang als vergessen galten. Beachtenswerte, regelmäßige Veranstaltungen sind ferner das „Festiwal Komedii Teatralnej Talia“ (Festival der Theaterkomödie „Thalia“) und die „Dni Pamięci Żydów Galicyjskich Galicjaner Sztetl“ (Gedenktage der Galizischen Juden).

Bildung und Wissenschaft

Die erste Pfarrschule in Tarnów wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gegründet. 1756 wurde eine akademische Kolonie der Jagiellonen-Universität Krakau eröffnet, in der anfangs polnische und in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts fast überwiegend deutsche Lehrer unterrichteten.[6] Starke Germanisierungsprozesse dauerten bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein an. In den Elementar- und Trivialschulen vermittelte man den Schülern Loyalität der Besatzungsmacht gegenüber. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die achtklassigen Gymnasien grundsätzlich humanistisch ausgerichtet. Mit der Einführung einer Schulreform nach den Vorschlägen von Janusz Jędrzejewicz (1885–1951) 1932 wurden diese Schulen zu vierklassigen Gymnasien und zweiklassigen Lyzeen umgestaltet. 1933 wurden ein privates Gymnasium und ein Lyzeum für Mädchen gegründet. In den 1930er Jahren waren in der Stadt auch Lehrerfortbildungsschulen tätig. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergrößerte sich vor allem die Zahl von Grund- und Oberschulen. In den 1990er Jahren begann die Entwicklung des Hochschulwesens. Im Schuljahr 2007/08 fanden sich 44 öffentliche und 47 Schulen in freier Trägerschaft sowie fünf Hochschulen in Tarnów, unter anderem die Staatliche Berufshochschule (Państwowa Wyższa Szkoła Zawodowa) und die Wirtschaftshochschule (Małopolska Wyższa Szkoła Ekonomiczna).

Kunstgeschichte und Architektur

Die im Zweiten Weltkrieg unzerstört gebliebene Altstadt von Tarnów gilt als „Perle der polnischen Renaissance“. Ihr schachbrettartiger Grundriss mit dem zentralen Marktplatz entstand nach der Verleihung der Stadtrechte 1330. Inmitten des Marktplatzes steht das im 14. Jahrhundert im gotischen Stil errichtete Rathaus mit einer mächtigen Renaissance-Attika (spätes 16. Jh.). Die umliegenden Steinhäuser stammen im Wesentlichen aus dem 16.–18. Jahrhundert; besonders beachtenswert sind die Renaissance-Fassaden des Dom Mikołajowski (Nikolaus-Haus) von 1524 und des Dom Florencki (Florenz-Haus) aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Der im Kern gotische Dom aus dem 14. Jahrhundert birgt die Grabmäler der Familien Tarnowski und Ostrogski. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden unter anderem monumentale Sakralbauten errichtet (Neue Synagoge, Kirche der Missionare und ein neuer Domturm). Es entstanden neue Schulen, Bibliotheken, Theatersäle, Bankhäuser und ein neues Bahnhofsgebäude. In den 1830er Jahren wurden die städtische Markthalle und das Gebäude des Kreisgerichts erbaut.

In der Stadt finden sich noch viele jüdische Spuren: die sogenannte Bima, die Überreste der Alten Synagoge, die 1939 abgebrannt wurde, die alte Mikwe, das rituelle Tauchbad (1904), und der jüdische Friedhof aus dem 16. Jahrhundert.

Literatur

Die Schriftstellerin Elżbieta Drużbacka, die häufig „polnische Sappho“ genannt wird, wurde um 1695 vermutlich in Großpolen geboren und ist 1765 in Tarnów gestorben. Mit Tarnów waren auch Mieczysław Jastrun (Mojsze Agatsztajn, 1903–1983), polnischer Dichter und Übersetzer deutscher, französischer und russischer Poesie, sowie Roman Brandstaetter (1906–1987), Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Übersetzer, verbunden.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Kazimierz Bańburski: Przewodnik po Tarnowie: informator turystyczny [Tarnów. Ein Stadtführer] Tarnów 2000.
  • Kazimierz Bańburski: Tarnów. Narodziny miasta. Wydane w 670 rocznicę nadania Tarnowowi praw miejskich [Tarnów. Die Geburt der Stadt. Herausgegeben am 670. Jahrestag der Verleihung der Stadtrechte]. Tarnów 2000.
  • Leszek Kałkowski (Hg.): Determinanty jakości życia w Tarnowie [Determinanten der Lebensqualität in Tarnow]. Tarnów 2011.
  • Ewa Łączyńska-Widz, Dawid Radziszewski: Tarnów. 1000 Years of Modernity. Warszawa, Tarnów 2012.
  • Bartosz Marciniak, Aleksander Strojny: Tarnów: perła renesansu [Tarnów: Perle der Renaissance]. Kraków 2007.
  • Andrzej Niedojadło (Hg.): Encyklopedia Tarnowa [Tarnów-Lexikon]. Tarnów 2010.
  • Andrzej Niedojadło: Hrabstwo Tarnowskie w XVII i XVIII wieku [Die Tarnower Grafschaft im 17. und 18. Jahrhundert]. Tarnów 2011.
  • Wiesław Ziobro: Tarnów and its surroundings. Guidebook. Rzeszów 2011.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Bańburski: Tarnów. Narodziny miasta [Tarnów. Die Geburt der Stadt], S. 13.

[2] Niedojadło (Hg.): Encyklopedia Tarnowa [Enzyklopädie von Tarnów], S. 244.

[3] Niedojadło (Hg.): Encyklopedia Tarnowa [Enzyklopädie von Tarnów], S. 243–245.

[4] Niedojadło (Hg.): Encyklopedia Tarnowa [Enzyklopädie von Tarnów], S. 243.

[5] Marciniak, Strojny: Tarnów, S. 25–27.

[6] Akademische Kolonien waren Sekundarschulen, die unter dem Protektorat unter anderem der Krakauer Universität gegründet wurden und Absolventen der Krakauer Schule als Lehrer anstellten.

Zitation

Tomasz Jabłecki: Tarnów. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32465 (Stand 25.08.2020).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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