Breslau/Wrocław

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Breslau; schlesisch Brassel

Amtliche Bezeichnung

poln. Wrocław

Anderssprachige Bezeichnungen

lat. Vratislavia; tschech. Vratislav

Etymologie

Der Stadtname leitet sich vermutlich vom Eigennamen des böhmischen Herzogs Vratislav I. als Stadtgründer Breslaus ab. Über 'Wrotizlawa' schreibt der Chronist Thietmar von Merseburg. 'Breßlau' ist erstmals 1266 nachgewiesen. Nach Norman Davies sind über 50 Varianten des Ortsnamens überliefert.[1]

2. Geographie

Lage

Breslau liegt in der niederschlesischen Tiefebene an der Einmündung der Ohle/Oława in die Oder/Odra auf 51° 7' Nord, 17° 2' Ost. Die Stadt erstreckt sich beiderseits der Oder und an ihren Nebenflüssen Ohle, Lohe/Ślęza, Weistritz/Bystrzyca und Weide/Widawa.

Staatliche und administrative Zugehörigkeit

Breslau ist mit 633.000 Einwohnern (Stand 2010) die viertgrößte Stadt der Republik Polen, die Hauptstadt der Woiwodschaft Niederschlesien/Województwo Dolnośląskie und des Kreises Breslau/Powiat Wrocławski sowie kreisfreie Stadt, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Mittelpunkt Niederschlesiens. Mit rund 140.000 Studierenden gehört Breslau zu den größten akademischen Zentren Polens. Breslau ist zudem Zentrum des katholischen Erzbistums Breslau, der evangelisch-lutherischen Diözese Breslau, der orthodoxen Diözese Breslau-Stettin, der griechisch-katholischen Eparchie Breslau-Danzig, der Diözese Breslau der polnisch-katholischen (altkatholischen) Kirche sowie einer jüdischen Gemeinde.

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Seit 1990 ist das von Kaiser Karl V. der Stadt 1530 verliehene fünfteilige Wappen wieder in Gebrauch, das oben den böhmischen Löwen (rechts) und den schlesischen Adler (links) zeigt, unten ein 'W' für Wratislawia oder Wratislaw (rechts) und das Haupt des Evangelisten Johannes mit Nimbus (links), in der Mitte das Haupt Johannes' des Täufers in einer aufgerichteten Schüssel (auch 1945–1948 Wappen der Stadt). Von 1938 bis 1945 führte die Stadt unter den Nationalsozialisten ein zweigeteiltes Wappen ohne slawische und christliche Bezüge, das den schlesischen Adler (oben) und das Eiserne Kreuz mit der Zahl 1813 (unten) trug. Von 1948 bis 1990 wurde ein gespaltenes Wappen verwendet, das links einen halben polnischen und rechts einen halben schlesischen Adler zeigte.

Gebräuchliche Beinamen

Die deutschsprachige Version der Breslauer Stadtgeschichte von Norman Davies und Roger Moorhouse von 2002 greift mit dem Titel Die Blume Europas eine Bezeichnung der Stadt auf, die auf die Zeit um 1600 zurückgeht. In seiner 1613 erschienenen Breslo-Graphia zitiert Nicolaus Henel von Hennenfeld den Humanisten Valens Acidalius, der Ende des 16. Jahrhunderts Breslau als Flos sacer Europae rühmte.

Papst Johannes Paul II. prägte bei seinem Besuch in Breslau 1997 die Formel von Breslau als der "Stadt der Begegnung" (miasto spotkań). Die Stadt nutzt diese Bezeichnung seither in ihrer Selbstdarstellung.

Archäologische Bedeutung

Das Gebiet um Breslau war seit der Jungsteinzeit besiedelt, wie neolithische Stätten im Süden der Stadt oder Schnurkeramik-Fundstätten im Osten und Westen Breslaus zeigen. Für die Bronzezeit sind Funde der Aunjetitzer und der Lausitzer Kultur belegt. Spuren einer Befestigungsanlage der Slenzanen/Ślężanie wurden 1875 auf der Dominsel gefunden; sie sind wie die mittelalterliche Siedlung vom Anfang des 13. Jahrhunderts auf dem linken Oderufer Schwerpunkt der archäologischen Forschungen. Seit den 1990er Jahren werden im Zusammenhang mit der Erneuerung der Infrastruktur archäologische Forschungen durchgeführt.

Mittelalter

(Zu allen Epochen s. auch Schlesien)

Bei der Bistumsgründung im Jahr 1000 gehörte Breslau zum Reich der polnischen Piasten. Ab 1138 wurde die Stadt von den Herzögen der Linie der schlesischen Piasten regiert. Zu zahlreichen Kirchen- und Klosterneugründungen - darunter Maria auf dem Sande, St. Adalbert und St. Vincenz auf dem Elbing/Ołbin - kam es im 12. Jahrhundert unter der Schirmherrschaft von Peter Wlast. Unter dem aus der Nähe von Lüttich stammenden Bischof Walther de Malonne wurden wallonische Siedler nach Breslau geholt und 1158 der Bau eines neuen dreischiffigen Doms nach dem Vorbild der Kathedrale von Lyon anstelle des hölzernen Vorgängerbaus begonnen.

Neben dem kirchlichen Zentrum auf der Dominsel und der herzoglichen Burg der Piasten mit einer jüdischen Siedlung am linken Oderufer konnte nach dem Mongoleneinfall 1241 die Stadt der Kaufleute und Handwerker um den Ring neu mit einem regelmäßigen Straßennetz geplant und gebaut werden. Siedler und Mönche aus Westeuropa, vor allem aus Mittel- und Süddeutschland, wurden angeworben. 1261 erhielt Breslau Magdeburger Stadtrecht und entwickelte sich dank seiner günstigen Lage an der Oder und am Schnittpunkt der internationalen Handelswege der Bernsteinstraße und der Hohen Straße schnell als Handelsplatz.

Frühe Neuzeit

Die Stadt Breslau zeichnete sich durch ein starkes Patriziat und einen mächtigen Stadtrat aus. So war sie mit Sitz und Stimme im Schlesischen Fürstentag sowie als Mitglied im Städtebund der Hanse vertreten. Seit 1335 stand Breslau unter böhmischer Lehnshoheit und erlebte im 14. und 15. Jahrhundert eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit.

Ein Versuch Breslaus im 17. Jahrhundert, als freie Reichsstadt anerkannt zu werden, verlief erfolgslos. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Breslau Residenzstadt der preußischen Könige.

Links: Der Becherpokal des Breslauer Goldschmieds Hans Strich d. Ä. (1586) war ein Geschenk Kaiser Rudolfs II. zur Hochzeit Georg v. Dyhrrns mit Barbara Braun von Schönau. [Foto: T. Gąsior].

19. Jahrhundert

Die Schleifung der Befestigungsanlagen 1807–10 veränderte die Stadt nachhaltig: Vorstädte wurden in das Stadtgebiet eingegliedert, die Bevölkerungszahl stieg stark an. Säkularisation und Universitätsgründung 1810 beeinflussten das kirchliche und kulturelle Leben der Stadt. 1813 rief König Friedrich Wilhelm III., der in Breslau residierte, von hier zum Widerstand gegen Napoleon auf.

20. Jahrhundert

Während des Zweiten Weltkriegs blieb Breslau zunächst unversehrt. Die Stadt wurde ab dem 25. August 1944 zur Festung erklärt. Im Februar belagerte die Rote Armee die Stadt und griff ab dem 1. April an. Für den Bau eines Start- und Landeplatzes für Flugzeuge ('Rollfeld') wurde das Stadtviertel um den Scheitniger Stern zerstört und hohe menschliche Verluste in Kauf genommen. Nach schweren Häuserkämpfen kapitulierte die Stadt am 6. Mai. 70% der Bausubstanz Breslaus war zerstört, im Süden und Westen sogar 90%. Am 9. Mai 1945 wurde Breslau unter polnische Verwaltung gestellt.

Bis 1948 wurde ein kompletter Bevölkerungsaustausch vollzogen: Deutsche Einwohner wurden vertrieben, enteignet, zwangsausgesiedelt. Neue Bewohner kamen aus verschiedenen Regionen Polens, vor allem aus Zentralpolen und den ehemaligen polnischen Ostgebieten, aus denen sie ihrerseits vertrieben worden waren. Prägenden Einfluss auf das Kulturleben des polnischen Breslau nahmen aus Lemberg/L'viv/Lwów stammende Neubürger, darunter viele Intellektuelle, die besonders im wissenschaftlichen Bereich Lemberger Traditionen fortsetzten. 1948 trat in der Jahrhunderthalle der Internationale Friedenskongress der Intellektuellen zusammen, der die 'wiedergewonnenen Gebiete' im allgemeinen Bewusstsein der Intellektuellen etablieren sollte und für Propagandazwecke genutzt wurde.

In den 1980er Jahren entstanden in Breslau im Rahmen der gesamtpolnischen Oppositionsbewegung um die Freie Gewerkschaft Solidarität/Solidarność eigene Gruppierungen wie die studentische Happening-Bewegung Alternative in Orange/Pomarańczowa Alternatywa.

Jüngste Entwicklungen

Seit Ende des kommunistischen Regimes veränderte sich Breslau in allen Bereichen sehr schnell und wurde umfassend restauriert. Durch die Oder-Flutkatastrophe 1997 erlitt Breslau einen Rückschlag, doch in einer solidarischen Hilfsaktion der Bevölkerung konnte das Kulturerbe der Stadt weitgehend gesichert werden. Breslau gewann ein neues Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl, das einen offenen Umgang mit der multiethnisch und multikonfessionell geprägten Geschichte der Stadt einschloss. Der EU-Beitritt Polens am 1. Mai 2004 verstärkte die europäische Orientierung.

Breslau ist als Kulturhauptstadt Europas 2016 nominiert.

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Seit der Ansiedlung im 13. Jahrhundert gab es eine Tradition der Hand- und Kunsthandwerker in Breslau, die in einem ausgeprägten Zunft- und Gildewesen Ausdruck fand. Zentrale Handelsplätze waren die Märkte am Ring, Salzring und Neumarkt. Im 19. Jahrhundert begünstigten die Oderregulierung (1844) und die Entwicklung zum Eisenbahnknotenpunkt in den 1850er Jahren die Gründung von Fabriken und großen Betrieben unter anderem der chemischen und der metallverarbeitenden Industrie (wie etwa die Wagenbauanstalt Gottfried Linke, später Linke-Hofmann-Werke). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollten der Bau der Jahrhunderthalle und des Messegeländes ein zeitgemäßes Forum für einen modernen Handels- und Industriestandort schaffen. Nach 1989 entwickelte sich Breslau zu einer der wirtschaftlich führenden Städte Polens; zahlreiche neue Firmen siedelten sich an (IT-Technologie, Auto- und Elektroindustrie).

Bevölkerungsentwicklung

Jahr Einwohner
 1550[2]  23.500
 1710  40.000
 1763  47.098
 1800  64.520
 1840  97.664
 1871  207.997
 1910  512.105
 1925  557.139
 1939  620.976
 1946[3]  186.400
 1950  314.100
 1960  438.400
 1970  533.500
 1978  597.800
 1988  639.000
 2002  640.400

 

Im Dreißigjährigen Krieg verlor die Stadt die Hälfte ihrer Bevölkerung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts überschritt die Einwohnerzahl 100.000 und Breslau wurde Großstadt. Durch immer neue Eingemeindungen stieg die Zahl der Einwohner weiter an.

Sozialgeschichte

Im 19. Jahrhundert war in Breslau ein breites politisches Spektrum vertreten. Bürger und Arbeiter gründeten zahlreiche Vereine, die sich für Freiheit und Demokratie, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Gesetze einsetzten; eine unabhängige, organisierte Arbeiterbewegung bildete sich in Breslau. Der Breslauer Ferdinand Lassalle (1825–1864) wurde 1863 in Leipzig Initiator und erster Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Bei Reichstags- und Kommunalwahlen erreichte die SPD in Breslau 1919 über 50% der Stimmen. In den wirtschaftlich schwierigen 1920er Jahren mit hoher Arbeitslosigkeit verlor sie zugunsten radikaler Parteien an Einfluss. Bei den letzten freien Reichstagswahlen 1932 waren die Nationalsozialisten mit über 40% die stärkste Partei, die Sozialdemokraten kamen nur noch auf über 20%. Nach Hitlers Machtübernahme gelangten viele politische Gegner - darunter Paul Löbe - in das KZ Breslau-Dürrgoy.

Religions- und Kirchengeschichte

1914 waren von 543.000 Einwohnern der Stadt 57% Protestanten, 38% Katholiken und 5% Juden.

Das vom Jahr 1000 an bis heute bestehende Bistum in Breslau ist eine wichtige Konstante der Stadtgeschichte. Im damals zur böhmischen Krone gehörigen Breslau wurde 1420 der Prager Hussit Jan Krasa auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im 16. Jahrhundert wurde Breslau mit Unterstützung des Stadtrats zu einer Hochburg der Reformation; den ersten protestantischen Gottesdienst hielt Johannes Hess am 21. Oktober 1523 in der Maria-Magdalena-Kirche. 1537 war Breslau bis auf die Klöster und Kirchen der Dominsel lutherisch und stand damit konfessionell im Gegensatz zu dem katholischen habsburgischen Landesherr, der die Gegenreformation in Breslau durch die Gründung der Leopoldina-Jesuitenakademie zu fördern suchte.

Schon seit dem Mittelalter lebten Juden in Breslau, doch erst 1744 bestätigte König Friedrich II. die Existenz der jüdischen Gemeinde in Breslau. In den 1840er Jahren spaltete sie sich in eine orthodoxe und eine liberale Gemeinde. Gegen Ende der Weimarer Republik lebte in Breslau die drittgrößte jüdische Gemeinde des Deutschen Reichs. Die Nationalsozialisten zerstörten die Synagoge am Anger (9./10. November 1938) und vertrieben, ermordeten und deportierten die Breslauer Juden (11 Transporte von 1941 bis zum Sommer 1944). Nur der Alte und der Neue Jüdische Friedhof blieben erhalten. In den Jahren 1945–1968 wurde Breslau vorübergehend zu einem Zentrum heimatloser polnischer Juden mit Schule und Theater in jiddischer Sprache. Heute gehören zur Gemeinde der restaurierten Synagoge 'Zum Weißen Storch' ca. 300 Personen.

Besondere kulturelle Institutionen

Die Bibliotheken der Stadt und der Universität versammeln umfangreiche historische Buch- und Zeitschriftenbestände in deutscher und lateinischer Sprache aus schlesischen Klöstern und Schulen oder aus Sammlungen wie der des Mäzens Thomas Rehdiger. Polnisches historisches Schrifttum bewahrt insbesondere das Nationalinstitut Ossolineum[4] auf, darunter auch den Vorlass von Władysław Bartoszewski. Die Archive Breslaus und Schlesiens wurden nach 1945 größtenteils im Staatsarchiv zu Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu) zusammengeführt, so auch die erhaltenen Akten des ehemaligen Stadtarchivs. Daneben gibt es das Erzdiözesan-, das Stadt- und das Bauarchiv im Architekturmuseum sowie das Archiv der Universität (1811–1945), der Technischen Universität (1910–1945) und der polnischen Universität Breslau ab 1945. Das Archiv der Jüdischen Gemeinde befindet sich im Jüdischen Historischen Institut in Warschau.

Theateraufführungen (Mysterienspiele) gab es in Breslau seit dem 14. Jahrhundert. Später spielten Schultheater des Magdalenen- und des Elisabeth-Gymnasiums sowie des Jesuitenkollegs. Deutsche, englische und italienische Wandertheater traten auf, der Schauspieler Franz Schuch (1716–1763) gründete 1754 das populäre Theater 'Kalte Asche'. Neben zahlreichen kleineren Bühnen entstanden 1841 das Städtische Theater (heute: Oper), 1869 das Lobe-Theater. Nach 1945 entwickelte sich Breslau zu einem Zentrum für experimentelles Theater (Kalambur, Pantomime-Theater von Henryk Tomaszewski, Laboratorium von Jerzy Grotowski). 1946–1955 war das Niederschlesische (ab 1950: Staatliche) Jüdische Theater in Breslau aktiv.

Bildung und Wissenschaft

Seit etwa 1100 wurden an der Domschule die Fächer des Triviums und Quadriviums unterrichtet. Die Magdalenen- und die Elisabethschule (gegründet 1267 bzw. 1293) erhielten um 1600 den Status von Gymnasien. Klosterschulen bestanden nach der Reformation weiter, nach der Säkularisation verblieb nur die Domschule in kirchlicher Hand. Die Gründung einer Schule für jüdische Schüler setzte der preußische Minister Carl Georg Friedrich von Hoym durch (Wilhelmschule 1791–1848). Konfessionelle Schulen ließ das NS-Regime 1940 schließen. Schulunterricht für jüdische Kinder wurde zum 1. Juli 1942 gänzlich verboten. Nach Kriegsende begann 1945 der Aufbau des polnischen Schulwesens in Breslau.

1505 stimmte der polnische König Wladislaw/Władysław II. der Gründung einer Universität zu, doch der Versuch scheiterte am Einspruch der Universität Krakau. Obwohl die protestantische Stadt die Jesuiten und die Rekatholisierung ablehnte, eröffnete die von Leopold I. gestiftete Jesuiten-Akademie mit theologischer und philosophischer Fakultät 1702. Nach der Säkularisation wurde 1811 aus der aufgelösten Viadrina in Frankfurt/Oder und der Leopoldina in Breslau die Friedrich-Wilhelms-Universität neu gegründet (1911–1945 Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität). Sie bot neben den beiden theologischen Fakultäten auch eine rechtswissenschaftliche, eine medizinische sowie eine philosophische Fakultät mit neuen Studiengängen wie Geographie, Geschichte, Neuphilologie, Musik, Naturwissenschaften und ab 1841 den ersten Lehrstuhl für slawische Sprachen und Literaturen in Deutschland. Mit der Universität verbunden sind Nobelpreisträger wie Paul Ehrlich (Medizin, 1908) oder Fritz Haber und Friedrich Bergius (Chemie, 1918 bzw. 1931).

Als zweite Hochschule in Breslau wurde 1791 die Königliche Kunst- und Gewerbeschule gegründet, aus der 1911 die Staatliche Akademie für Kunst und Kunstgewerbe hervorging. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Breslau zu einem der wichtigsten Zentren jüdischer Wissenschaft in Europa. 1854 wurde das Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel'scher Stiftung, das erste deutsche Rabbiner-Seminar, gegründet (bis 1938). 1910 entstand die Königliche Technische Hochschule. Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nahm im August 1945 die polnische Uniwersytet Wrocławski ihren Betrieb auf, ebenso die Technische Hochschule unter dem gemeinsamen Rektor Stanisław Kulczyński, dem ehemaligen Rektor der Universität Lemberg. Nach 1950 wurden aus einigen Fakultäten eigene Hochschulen (so die Medizinische Akademie oder die Landwirtschaftsakademie). Auch zahlreiche andere staatliche und private Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben ihren Sitz in Breslau.

Alltagskultur

Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die aus dem Mittelalter stammenden Zünfte wichtige gesellschaftliche Vereinigungen. Auch ein lebendiges Vereinswesen (politische, kaufmännische, Gesangs-, Gewerbe-, Turn- und Schützenvereine) und Studentenverbindungen entwickelten sich in Breslau. In der Zeit des Nationalsozialismus fanden das Deutsche Sängerbundfest 1937 und das Deutsche Turn- und Sportfest 1938 in Breslau statt.

Die Großstadt Breslau verfügt über viele Parks und Grünanlagen für Freizeit und Erholung. In Scheitnig/Szczytniki legte man ein Ausstellungsgelände an (seit 1916 Breslauer Messe AG). Hier entstanden 1864–1865 der Zoologische Garten und ein Japanischer Garten als Teil der Jahrhundertausstellung 1913.

Die Breslauische Mundart (Brasselsche Mundoart) ist ein schlesischer Regionaldialekt, der bis zur Flucht und Vertreibung der Deutschen in Breslau gesprochen wurde und akut vom Aussterben bedroht ist. Bekannte Breslauer Mundartgedichte schrieb Karl von Holtei. Der Sage nach hat der Teufel einen typisch schlesischen Kloß (Kließla) auf das Klößeltor auf der Dominsel gesetzt und versteinern lassen.

Kunstgeschichte

Zahlreiche Kirchenbauten auf der Dom- und Sandinsel (Ägidienkirche, Dom-, Kreuz- und Sandkirche) und in der Altstadt (Maria-Magdalenen-, Elisabeth- und Dorotheenkirche) gehen auf die Zeit des Mittelalters zurück. Kunstschätze wie Altäre, Skulpturen (wie die 'Schönen Madonnen' des Typus Breslau) und liturgisches Gerät verschiedenster Stilrichtungen und Epochen sind in Kirchen oder Museen bewahrt, besonders aus der Zeit der Gotik und des Barock. Das historische Rathaus mit seinen musealen Sammlungen ist das wichtigste profane Gebäude der Stadt. Bedeutendste Bauten der Barockzeit sind das Hauptgebäude der Universität mit der Aula Leopoldina und die Universitätskirche. Architekt des Theaters (heute: Oper) und der Synagoge 'Zum Weißen Storch' war der gebürtige Breslauer Carl Ferdinand Langhans (1782–1869). Am Ring waren seit dem Mittelalter repräsentative Patrizierhäuser entstanden, um 1900 kamen auch Kauf- und Handelshäuser im Jugendstil hinzu.

Vor dem Ersten Weltkrieg wurden bedeutende öffentliche Bauwerke und Industriedenkmäler errichtet, darunter die Kaiserbrücke (1910) sowie die Jahrhunderthalle (1913, seit 2006 eingetragen in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste) von Max Berg. In den 1920er Jahren stand der Bau von Banken, Kaufhäusern und öffentlichen Gebäuden sowie von Wohnungen für die wachsende Bevölkerung im Zeichen der Architektur der Moderne (u. a. Ernst May, Erich Mendelsohn, Adolf Rading, Hans Scharoun). Architektur, Kunst und Kunsthandwerk der Moderne wurden stark beeinflusst von Lehrern (wie Hans Poelzig, Theodor von Gosen, Oskar Moll, Otto Mueller, Adolf Rading oder Oskar Schlemmer) der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe (1911–1932). 1929 fand in Kooperation mit der Akademie die Ausstellung "Wohnung und Werkraum" (WuWA) des Deutschen Werkbunds auf dem Messegelände in Scheitnig statt, in deren Rahmen auch eine bis heute bestehende Mustersiedlung des Neuen Bauens angelegt wurde.

Zu den bedeutenden Museen der Kunst und Geschichte der Stadt sowie Schlesiens gehören das Städtische Museum mit dem Historischen Museum, dem Archäologischen und Militärgeschichtlichen Museum im ehemaligen Arsenal, dem Museum für Friedhofskunst (= Alter Jüdischer Friedhof an der Lohestraße/ul. Ślężna) und dem Museum für die Kunst des Bürgertums im Rathaus, das Architekturmuseum im ehemaligen Bernhardinerkloster, das Nationalmuseum Breslau mit Ethnographischem Museum sowie das Erzbischöfliche Museum auf der Dominsel.

Musik

Das älteste Notenfragment aus Breslau ist eine Antiphon aus dem frühen 13. Jahrhundert. Die Musikgeschichte Breslaus (Kantoren, Komponisten, Organisten und andere Musiker; Orgeln) ist eng mit den großen Kirchen (Dom, Kloster- und Stadtkirchen) und ihren Schulen verbunden. Der neuen Universität wurde 1817 das Königliche Akademische Institut für Kirchenmusik angegliedert. Die größte Orgel Breslaus mit über 200 Registern wurde für die Jahrhunderthalle gebaut (1913). Mit Funkkapelle, Rundfunkchor und Sinfonieorchester wirkte der Breslauer Rundfunk 1924–1933 weit über Breslau hinaus.

Literatur

(s. auch Schlesien)

Frühestes erhaltenes literarisches Zeugnis ist die Breslauer Marienklage, ein um 1350 entstandenes mittelhochdeutsches Osterspiel. Die älteste Geschichte der Stadt Breslau des Stadtschreibers Peter Eschenloer stammt aus dem 15. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert schrieben Humanisten wie Pancratius Vulturinus oder Valens Acidalius in lateinischer Sprache Lobgedichte auf die Stadt Breslau, Handwerker dichteten 'Meisterlieder'. Im 17. Jahrhundert wurde Breslau zu einem Mittelpunkt der deutschen Barockliteratur mit Autoren wie Martin Opitz, Andreas Tscherning und Daniel Czepko von Reigersfeld oder Daniel Caspar von Lohenstein und Christian Hofmann von Hofmanswaldau.

Der barocke Mystiker und Arzt Angelus Silesius (Johannes Scheffler) ist für seine Lyrik bekannt (Cherubinischer Wandersmann oder Geist-Reiche Sinn- und Schluss-Reime, 1675) und eng mit der Gegenreformation in Breslau verbunden. Aufklärer wie der Philosoph Christian Wolff und der Herausgeber verschiedener Universallexika Johann Heinrich Zedler stammten aus Breslau. Gotthold Ephraim Lessing schrieb während seiner Breslauer Zeit (1760–1765) die Komödie Minna von Barnhelm. Im 19. Jahrhundert waren Willibald Alexis, Karl von Holtei, Gustav Freytag oder Heinrich Hoffmann von Fallersleben mit Breslau verbunden. Der Breslauer Naturwissenschaftler Kurd Laßwitz schrieb mit seiner Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins. Culturbildliche Skizze aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert das 'Gründungsdokument der deutschen Science Fiction', das 1871 in der Schlesischen Zeitung veröffentlicht wurde. Aus dem assimilierten jüdischen Bürgertum stammten Autoren und Wissenschaftler wie Günther Anders und Ernst Cassirer, Norbert Elias und Alfred Kerr. Gerhart Hauptmanns Festspiel in deutschen Reimen wurde 1913 zur Einweihung der Jahrhunderthalle inszeniert. Die Schlesische Funkstunde (1924–1933) mit Fritz Walter Bischoff und Edmund Nick leistete Pionierarbeit für das Hörspiel im Rundfunk, etwa mit Leben in dieser Zeit von Erich Kästner.

Neben deutschsprachigen Werken der Erinnerungsliteratur an das Vorkriegs-Breslau und an Flucht und Vertreibung aus Breslau befassen sich heute auch polnische Schriftsteller mit Breslau und seiner Geschichte, darunter der 'Breslauer Dichter'/'Poeta wrocławski', Erzähler und Dramatiker Tadeusz Różewicz, die Romanautorin Olga Tokarczuk, und der Krimiautor Marek Krajewski.

Gedächtnis- und Erinnerungskultur

Neue Straßennamen und Denkmäler als Instrumente von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur markieren auch in Breslau politische Zäsuren. So wurde im preußischen Breslau der historische Salzring 1827 zum Blücher-Platz (Solny), unter den Nationalsozialisten die Kaiser-Wilhelm-Straße zur Straße der SA (ul. Powstańców Śląskich) und in der Volksrepublik Polen der Dominikanerplatz 1951–1989 zum Feliks-Dzierżyński-Platz. Anstelle des zerstörten Denkmals König Friedrich Wilhelms III. (1861) am Ring wurde das Lemberger Denkmal Aleksandr Fredros (von 1879) 1956 im polnischen Breslau aufgestellt.

Seit dem Paradigmenwechsel 1989 entstanden zahlreiche Denkmäler, die für Versöhnung und das Gedenken der Opfer verschiedenster politischer Systeme, Kriege und Katastrophen stehen und an die Geschichte Breslaus und seiner früheren Bewohner (wie das Denkmal des gemeinsamen Gedenkens, 2009) oder an die Anfänge der deutsch-polnischen Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern (Denkmal für Kardinal Bolesław Kominek und den Brief der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1965 mit dem Zitat "przebaczamy i prosimy o przebaczenie"/"wir vergeben und bitten um Vergebung", 2005). Wahrzeichen Breslaus war immer das Rathaus, das für die starke Bürgerstadt und ihre Geschichte steht. Wahrzeichen sind heute ebenfalls wieder der Dom, der die Anfänge der Stadt und des Bistums symbolisiert, die Universität mit der Aula Leopoldina sowie die Jahrhunderthalle. Die für Massenveranstaltungen geplante Halle bezeichnete ihr Architekt Max Berg in der demokratischen Aufbruchsstimmung nach dem Ersten Weltkrieg auch als "Dom der Demokratie". Sowohl von Nationalsozialisten als auch von Kommunisten wurde sie für politische Massenkundgebungen genutzt. Als Hala Ludowa (Volkshalle) war das monumentale Gebäude 1948 Schauplatz der Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete (Wystawa Ziem Odzyskanych) und des Weltkongresses der Intellektuellen zur Verteidigung des Friedens. Heute wird - trotz heftiger politischer Auseinandersetzungen über angebliche Germanisierungstendenzen in Breslau - der Name Jahrhunderthalle polnisch mit Hala Stulecia wiedergegeben, entsprechend dem offiziellen Titel Centennial Hall, mit dem die Halle 2006 in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste eingetragen wurde. Das Wahrzeichen des jüdischen Breslau war die Neue Synagoge am Anger (ul. Łąkowa) von Edwin Oppler von 1872 (in der Pogromnacht 1938 niedergebrannt).

4. Diskurse/Kontroversen

Nach selektiv-ideologisch geprägten Wahrnehmungen und Darstellungen der Stadtgeschichte als 'immer schon deutsch' durch die Nationalsozialisten bzw. 'immer schon piastisch' durch die Kommunisten brachten nach 1989 deutsche und polnische Historiker Schlesien als Brückenlandschaft in Ostmitteleuropa ins Gedächtnis. Die vielfältigen Elemente und Einflüsse, die Breslau in etwa tausend Jahren geprägt hatten, stellte der britische Historiker Norman Davies zusammen mit Roger Moorhouse in seinem Buch Microcosm vor, das die "verlorene Stadt der deutschen Geschichte" zum Gesprächsthema einer Art 'philovratislavischen' Welle machte. Gregor Thum schrieb über den kompletten Bevölkerungsaustausch nach dem Zweiten Weltkrieg. In der zerstörten und den Neubürgern fremden Stadt verdichte sich "das ganze Drama Europas im 20. Jahrhundert". Die multiethnische und multikulturelle Geschichte Breslaus ist heute Teil der städtischen Selbstdarstellung.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Ernst Badstübner, Dietmar Popp, Andrzej Tomaszewski, Dethard von Winterfeld (Hg.), Sławomir Brzezicki, Christine Nielsen (Bearb.): Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler in Polen. Schlesien. München, Berlin 2005, S. 1032-1153.

  • Norbert Conrads: Breslau - Identitäten und kulturelles Gedächtnis. In: Matthias Weber, Burkhard Olschowsky, Ivan Petranský, Attila Pók, Andrzej Przewoznik (Hg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. München 2011 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 42), S. 139-157.
  • Norman Davies, Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau - Wroclaw - Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002.
  • Rafał Eysymontt, Jerzy Ilkosz, Agnieszka Tomaszewicz, Jadwiga Urbanik (Hg.): Leksykon Architektury Wrocławia [Architekturlexikon Breslau]. Wrocław 2011.
  • Jerzy Ilkosz: Die Jahrhunderthalle und das Ausstellungsgelände in Breslau - das Werk Max Bergs. München 2006.
  • Teresa Kulak: Wrocław in der Geschichte und in der Erinnerung der Polen. In: Matthias Weber, Burkhard Olschowsky, Ivan Petranský, Attila Pók, Andrzej Przewoznik (Hg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. München 2011 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 42), S. 159-176.
  • Maciej Łagiewski: 1000 lat Wrocławia. Wrocław 2009 (deutschsprachige Ausgabe: ders.: 1000 Jahre Breslau. Wrocław 2009).
  • Gregor Thum: Die fremde Stadt - Breslau 1945. Berlin 2003.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Davies, Moorhouse: Die Blume Europas, S. 28.

[2] 1550–1939, Quelle: Heinrich Bartsch: Die Städte Schlesiens (in den Grenzen von 1937). Dortmund 1977, S. 54f.

[3] 1946–2002, Quelle: Urząd Statystyczny we Wrocławiu: www.stat.gov.pl/wroc/67_378_PLK_HTML.htm

[4] Zum Ossolineum s. Schlesien/3. Geschichte und Kultur, Abschnitt 'Besondere kulturelle Institutionen'.

Zitation

Maria Luft: Breslau/Wrocław. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54182.html (Stand 30.07.2021).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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