Georgien
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Republik Georgien
Amtliche Bezeichnung
Sakartvelo
Etymologie
Die Eigenbezeichnung Sakartvelo („Land der Kartvelen“) soll vom heidnischen Gott Kartlos, dem Stammvater der Georgier, abgeleitet sein (vgl. auch die Eigenbezeichnung der Bewohner Zentral- bzw. Ostgeorgiens vom 9. bis 13. Jahrhundert: Kartvelebi, „Kartvelen”). Der Name Sakartvelo bezeichnete ursprünglich Kartli-Kachetien oder das in römischen Quellen beschriebene Iberien; griechische (Strabo, Herodot, Plutarch, Homer u. a.) und römische (Titus Livius, Tacitus u. a.) Autoren unterschieden westliche Georgier als Kolchiter und östliche als Iberer (Iberoi).
Der in der westeuropäischen Geographie übliche Name „Georgien“ wird auf die persische Bezeichnung für Georgier, gurğān, zurückgeführt (syr. gurz-ān/gurz-iyān, arab.: ĵurĵan/ĵurzan) und soll sich auf St. Georg (Tetri Giorgi) als Nationalheiligen der Georgier beziehen. Der oft als Drachenkämpfer dargestellte heilige Georg genießt eine besondere Verehrung, ihm soll die mythische Gestalt des ritterlichen "Weißen Georg" zugrunde liegen. Vermutlich gelangte in der Kreuzfahrerzeit über den Namen dieses legendären Helden die Bezeichnung "Georgien" nach Westeuropa. In der biblischen Völkertafel in Genesis 10,2 werden Tubal und Mesech erwähnt, Fähnrich[1] verweist auf alte hebräische Schriften, die Georgier bereits als Mosoch/Mesech und Gurgi bezeichneten. Die neupersische Bezeichnung gurğān geht möglicherweise auf das altpersische Wort varkâna (Land der Wölfe) zurück, es steht aber auch in einer Beziehung zum transkaspischen Toponym für Gorgan (Hyrcania). Aus diesen Überlieferungen soll die russische Fremdbezeichnung Gruzija (dt. veraltet: Grusien bzw. Georgien) hervorgegangen sein.
2. Geographie
Topographie
Das heutige Georgien erstreckt sich auf einer Länge von ca. 450 km südwestlich der steil abfallenden Berge des Großen Kaukasus über Zwischengebirge bis zum Hochland des Kleinen Kaukasusgebirges. Während der Große Kaukasus das Land vor dem rauen Kontinentalklima Russlands schützt, teilt das Lichi-Gebirge das Land in einen West- und einen Ostteil. Zwei Drittel der Gesamtoberfläche des Landes (69.700 km2 – ungefähr die Fläche Bayerns oder Irlands) sind bei einer Bevölkerung von rund 3,7 Millionen (1. Januar 2016) mit Bergen über 600 Metern bedeckt. Gern vergleichen sich die Georgier deshalb mit der Schweiz. Wichtigste Nachbarstaaten sind neben der Russischen Föderation und der Türkei die Republiken Armenien und Aserbaidschan.
Auf kleinstem Raum finden sich acht verschiedene Klima- und Vegetationszonen, die eine Vielzahl von Kulturlandschaften hervorgebracht haben. An der Schwarzmeerküste herrscht subtropisches, feuchtwarmes Klima. Hier liegen (von Nord nach Süd) Abchasien, Mingrelien, Gurien und Adscharien. Weiter landeinwärts schließen sich die Gebirgslandschaften Swanetien, Ratscha und Letschchumi an. Südlich hiervon befindet sich das westgeorgische Kernland Imeretien mit Kutaissi als Zentrum. Östlich des Lichi-Gebirges liegt die zentrale Senke Ostgeorgiens – die Region Kartli, geprägt durch trockene Sommer und kalte Winter. Südlich von Kartli erhebt sich der Kleine Kaukasus mit den Regionen Mes'cheti und Dschawacheti. Im äußersten Osten – im Grenzgebiet zu Aserbaidschan – kommt man schließlich in das Weinanbaugebiet Kachetien. Nördlich davon liegen im zerklüfteten Großen Kaukasus Talschaften mit ihrer eigenen Tradition: Chewsureti, Chewi, Tuscheti, Pschawi und Mtiuleti.
Die ehemalige Autonome Region Südossetien (georg. historische Provinz Samatschablo) untersteht – ebenso wie die frühere Autonome Republik Abchasien – derzeit nicht der georgischen Staatsgewalt.
Bevölkerung
Georgien musste in den letzten Jahrzehnten erhebliche demographische Verwerfungen hinnehmen. Neben Migrationen durch Bürgerkriegsereignisse und sinkenden Geburtenraten sind anhaltende soziale Probleme wichtige Ursachen. Die Bevölkerungszahl ging von über fünf Millionen (1990) auf 3,73 Millionen (1. Januar 2018) zurück, davon lebten 2,17 Millionen in städtischen,1,55 Millionen in ländlichen Regionen.[2]
Die ethnische Zusammensetzung wurde nach der letzten offiziellen Volkszählung von 2014 folgendermaßen angegeben: 86,6 Prozent Georgier, 6,3 Prozent Aserbaidschaner, 4,5 Prozent Armenier, 0,7 Prozent Russen und 1,9 Prozent andere.[3] Inzwischen sollen ca. zwei Millionen georgische Bürger in der Russischen Föderation leben. Problematisch für die statistische Erfassung ist die Einbürgerung von abchasischen und südossetischen Bürgern, die infolge der Sezessionskonflikte mit Pässen der Russischen Föderation ausgestattet wurden.
Wichtige Städte:[4]
- Tbilisi/Tiflis (1,08 Millionen Einwohner)
- Kutaissi (147.200 Einwohner)
- Batumi (155.500 Einwohner)
- Rustavi (126.300 Einwohner)
- Gori (48.300 Einwohner)
3. Geschichte und Kultur
Georgiens Geschichte ist trotz der geringen Größe des heutigen Territoriums so vielfältig wie die Landschaft und ihre Bewohner. Am nördlichen und östlichen Rand alter Kulturzentren in Vorderasien und des Mittelmeeres gelegen, war die Region Kontakt- und umstrittene Grenzzone der ältesten Hochkulturen und zugleich sowohl Durchzugs- als auch Rückzugsgebiet von Völkerschaften, Kulturen und Religionen. Jahrtausendelang nahmen externe Mächte entscheidenden Einfluss auf ein Gebiet, das sich an der „Peripherie“ ihrer Reichsgebiete befand, und doch gelang es in Zeiten der Schwäche äußerer Kräfte immer wieder, eigenständige Staatswesen zu begründen.
Antike
Im 13. Jahrhundert v. Chr. entstand das Königreich Diaochi aus einer Vereinigung verschiedener kartwelischer Stämme, im 6. Jahrhundert v. Chr. bildete sich im Westen des heutigen Georgiens der Staat Kolchis, und im 4. Jahrhundert v. Chr. befand sich im gebirgigen Osten das Land Iberien. Die Länder standen in enger Verbindung zu Parthien, Griechenland und den Achämeniden. 65 v. Chr. eroberte der römische Feldherr Pompeius nach dem Sieg über Pontos auch Iberien und Kolchis. Sie wurden zu römischen Vasallenstaaten. Im 1. Jahrhundert n. Chr. zerfiel Kolchis, es bildete sich der Nachfolgestaat Lasika. Von 189 bis 284 herrschte in Iberien eine Seitenlinie der parthischen Arsakiden. Iberien wurde im 3. Jahrhundert persischer Vasallenstaat und sollte noch mehrfach die Seiten wechseln. Nach den Römisch-Persischen Kriegen orientierte sich Iberien außenpolitisch an Byzanz.
Bereits im 1. Jahrhundert wird auf urchristliche Gemeinden in Südkaukasien verwiesen, als Prediger werden die Apostel Andreas, Matthias und Simeon Zelotes genannt. In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts wurde unter König Mirian (298–334?) aus dem Geschlecht der Chosroiden das Christentum in West- und Ostgeorgien offizielle Staatsreligion. Eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur spielt Wachtang Gorgassal (438–491), der König von Iberien, der das Reich zu einer Blüte führte und die Hauptstadt von Mzcheta nach Tiflis verlegte, bevor die Perser in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts das Königtum von Iberien liquidierten.
Autochthone Überlieferungen finden sich in Geschichtswerken wie „Das Leben der georgischen Könige und Patriarchen“ (Tschovrebakartueltamepeta da pirveltagantamamata da natesavta) und „Die Bekehrung Georgiens“ (Mokcevaj Kartlisaj). Hier wird die heilige Nino als Bekehrerin Georgiens genannt. Um 337 soll sie König Mirian für die christliche Botschaft gewonnen haben. Seit dieser Zeit gilt das Christentum als Staatsreligion. Die Georgisch-Orthodoxe Apostelkirche ist seit dem 5. Jahrhundert autokephal. Aus politischen Gründen konnte die georgische Kirche nicht am Konzil von Chalcedon 451 teilnehmen. 487 gewährte das Patriachat von Antiochia der iberischen Kirche die Selbstregierung. Im 6. Jahrhundert stand sie auf Seiten der armenischen Kirche, die das Chalcedonense ablehnte (Teilnahme von Katholikos Gabriel I. an der Synode von Dvin 506). Im Jahr 610 kam es allerdings unter Katholikos Kyrion I. zum Bruch, und die georgische Kirche erkannte die christologischen Beschlüsse des Chalcedonischen Konzils an, die besagten, dass Jesus sowohl eine göttliche als auch eine menschliche Natur in sich vereine (Duophysitismus). Sie zählt deshalb zu den byzantinischen Kirchen. Der Ersthierarch trägt seit dem 5. Jahrhundert den Titel „Katholikos“.
Mitte des 8. Jahrhunderts erhielten die ostgeorgischen Bischöfe vom Patriarchen von Antiochien das Recht, ihr Oberhaupt selbst zu weihen. Im 9. oder 10. Jahrhundert folgte das Recht der Myronweihe. Schließlich schlossen sich im 10. Jahrhundert auch die westgeorgischen Bischöfe, die bis dahin Konstantinopel unterstanden hatten, dem Katholikat an. Mit der Annahme des bis heute gebräuchlichen Doppeltitels „Katholikos-Patriarch“ dokumentierte Melchisedek I. (1012–1045, mit Unterbrechungen) die Selbstständigkeit seiner Kirche.[5] Charakteristisches Symbol ist das umflochtene „Weinrebenkreuz der Hl. Nino“ mit den nach unten geneigten Seiten. Religiöse Texte wurden bis ins 18. Jahrhundert in einer eigenen Schrift niedergeschrieben (Priesterschrift/Chuzuriim, im Unterschied zur weltlichen „Kriegerschrift“/Mchedruli).
Mittelalter und Frühe Neuzeit
Ab 642 kamen Araber in das Land, Islamisierungsversuche blieben jedoch weitgehend erfolglos. Aus Lasika und Iberien entstanden kleinere Fürstentümer, darunter Kartli, Kachetien, Heretien, Tao-Klardscheti, Abchasien und Egrisi, die ab 755 von einem Emir in Tiflis kontrolliert wurden. Mit dem Zerfall des Kalifats und dem Vordringen der Kreuzfahrer in den Nahen Osten Anfang des 11. Jahrhunderts gelang es Bagrat III. (963–1014, ab 975 König), Ost- und Westgeorgien sowie die abchasische und die georgische Linie der Bagratiden in einem Georgischen Königreich zu einen. Sein Enkel Bagrat IV. bestieg 1039 in Tiflis den Thron, und dessen Nachkommen herrschten in Teilen Georgiens bis 1801. Bis zum 13. Jahrhundert schloss sich trotz verschiedener Überfälle (Vordringen der Seldschuken seit dem 11. Jahrhundert) und fremder Beherrschung eine Blütephase Georgiens an. 1089 bestieg König David IV. „der Erbauer“ (1073–1125) den Thron, verdrängte die Seldschuken, reformierte das geeinte Reich und ließ u. a. die Akademie von Gelati (1106) als erste Universität erbauen. Kirchliche Literatur und Architektur wurden gefördert und die Kirche mit ihren Klöstern (auch außerhalb des georgischen Reiches, im Iwiron-Kloster auf dem Berg Athos und im Kreuzkloster in Jerusalem) erhielt ihre zentrale Rolle für die kulturelle Entwicklung Georgiens durch David den Erbauer, der 1103 mit einer Reform für die Verflechtung von Kirche und Staat sorgte. Er unterstellte einerseits die Kirche dem weltlichen Staatsoberhaupt, verpflichtete aber gleichzeitig hohe Geistliche zur Übernahme wichtiger politischer Ämter. Hatten vorher üblicherweise Militärs die Position des Reichskanzlers bekleidet, so hob er jetzt den Bischof von Martwili in dieses Amt.
Unter der Herrschaft von Königin Tamar (1184–1213) erreichten Feldzüge Persien und Byzanz (1204, Gründung des Reiches Trabzunt), zugleich führte sie wichtige innenpolitische Reformen durch: Staatliche Proklamationen erfolgten nur noch nach Absprache mit dem Adelsparlament Darbasi, auf lokaler Ebene schuf sie Gerichte, gegen deren Entscheidungen Berufung bei einem Obersten Gerichtshof eingelegt werden konnte. Unter ihrer Regentschaft blühten Wirtschaft, Kunst und Kultur. Das 11./12. Jahrhundert ging als die „Georgische Renaissance“ in die Geschichte ein, diese fand jedoch mit dem Tod Tamars ein jähes Ende. Mongolen, Osmanen und Perser sollten in den nächsten Jahrhunderten nachdrücklich ihr Interesse an Georgien zeigen.
1243 wurde Königin Rusudan gezwungen, offiziell die Oberhoheit der Mongolen anzuerkennen. Nach dem Tod von Aleksandre I. (1442), dem letzten König eines geeinten Georgien, zerfiel das Haus der Bagratiden in drei Linien. Eine regierte von Tiflis aus über Kartli, die zweite beherrschte das westliche Imeretien, die dritte saß im ostgeorgischen Kachetien. Das übrige Land geriet unter die Kontrolle von teilweise selbsternannten, teilweise alteingesessenen Prinzen oder Fürsten. Die größten Fürstentümer waren Abchasien, Gurien, Mingrelien, Samzche und Swanetien. Als 1453 Konstantinopel durch das Osmanische Reich erobert wurde, kam der Kontakt zu den christlichen Staaten Europas teilweise zum Erliegen. Gleichzeitig begann sich in Kleinasien eine neue Konfliktlinie aufzuwerfen. Während eine Linie der Türken das Osmanische Reich aufbaute, kam es 1501 zum Wiedererstarken Persiens unter der Herrschaft der Safawiden, die sich um Besitzungen in Südkaukasien stritten. Im Vertrag von Amasia (1555) wurde Südkaukasien zwischen den beiden Großmächten aufgeteilt, Westgeorgien unterstand nun dem Sultan, Ostgeorgien dem Schah. Georgische Fürsten wurden zu Vasallen oder traten in osmanische bzw. persische Dienste ein. Nicht wenige Georgier erlangten als Militärs Einfluss an den Höfen, während die nicht-muslimischen Bevölkerungsteile unter Aushebungen, den steigenden Abgabenlasten, wechselnden Loyalitäten und unzähligen Machtkämpfen der georgischen Lokalfürsten extrem litten. Nach dem Abschluss eines Beistandsvertrages zwischen Imeretien, Kartli und Kachetien 1758 konnte 1762 schließlich Ostgeorgien als Königreich Kartli-Kachetien unter Erekle II. vereinigt werden.[6]
Russisches Reich
Einen Verbündeten gegen die fremden Herrscher suchten Georgiens Fürsten bei Russland. Im Vertrag von Georgievsk von 1783 begab sich das ostgeorgische Königshaus Kartli-Kachetien unter russische „Schutzherrschaft“, die 1801 zur Annexion führte. Zunächst noch formal autonom, folgten 1810 Imeretien, 1819 Gurien, 1846 Swanetien, 1857 Mingrelien und 1864 Abchasien. Infolge des Russisch-Osmanischen Krieges annektierte Russland 1878 auch die Gebiete von Kars und Batumi. Revolten und massenhafte Auswanderungen muslimischer Bevölkerungsgruppen waren die Folge.
1832 scheiterte eine Adelsverschwörung gegen die russische Politik, die sich in Kaukasien vor allem in der Willkür der Militäradministration zeigte, nachdem das Versprechen einer gleichberechtigten, georgischen Beteiligung an einer Zivilverwaltung gescheitert war und 1811 die georgische Kirche der russisch-orthodoxen unterstellt und die Russifizierung eingeleitet worden war. Mit der Einführung der Kaukasischen Statthalterschaft stieg Tiflis unter Fürst Michail Sergeevič Voroncov (1844–1855 im Amt) zum „Paris des Ostens“ auf. Auf Voroncov gehen unter anderem das erste Theater 1845, die erste öffentliche Bibliothek sowie zahlreiche Bildungsinstitutionen und Gelehrtengesellschaften zurück. Tiflis wurde zum multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Zentrum russischer Statthalterschaft in Kaukasien und war damit zugleich militärisches, administratives und kulturelles Herz der Region. Einer Integration einheimischer Eliten (u. a. durch die selektive Aufnahme der Oberschicht in den russischen Adel) folgte eine partielle Modernisierung im Rahmen der „Großen Reformen“, die in den Gouvernements Südkaukasiens später und modifizierter als in den zentralrussischen Gebieten eingeleitet wurden: Im Oktober 1864 erfolgte die „Bauernbefreiung“ im Gouvernement Tiflis, im November 1865 im Gouvernement Kutaissi, 1867 folgte Mingrelien, 1870 Abchasien, 1871 Swanetien. 1867 trat eine Justizreform in Kraft, ab 1870 die Einführung einer städtischen Selbstverwaltung und 1874 die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für Nichtmuslime.
Zugleich wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Unzufriedenheit der Georgier. Neben Aufständen formierte sich zunächst eine Aufklärungsbewegung (Tergdaleulebi[7]-Bewegung), die in eine protonationale politische Bewegung mündete und vor allem von jungen Adligen und Intelligenzlern getragen wurde. Dimitri Qipiani (1814–1887), Gerasime Kikodse (1825–1996, „Bischof Gabriel“), Ilia Tschawtschawadse (1837–1907) und Akaki Zereteli (1840–1915) gelten als Leitfiguren dieses Prozesses.[8] Die georgische Nationalbewegung entwickelte sich aus drei Strömungen: einer ersten Gruppe (Pirvelidasi), die sich um die Losung Mamuli – Ena – Sarcmunoeba (Vaterland – Sprache – Glaube) mit Ilia Tschawtschawadse und Irakli Zereteli (1881–1959) formierte, einer zweiten Gruppe (Meoredasi) mit Niko Nikoladze (1843–1928), Georgi Zereteli (1842–1900), Petr Umikašvili um die Zeitschrift Droeba (Die Zeit) in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre, die Einflüsse des westlichen Liberalismus und Sozialutopismus aufnahm, und einer dritten Gruppe (Mesamedasi) mit Noe Žordania (1868–1953), Nikoloz Čcheidze (1864–1926), Irakli Zereteli (1881–1959) und (bis 1903) auch Iosif Džugašvili/Stalin (1878–1953), die Gedanken der russischen und europäischen Sozialdemokratie (später Menschewiki) rezipierte. Führende politische Kraft wurde die menschewistische Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Nach dem Scheitern einer Transkaukasischen Föderation, deren Unabhängigkeit am 9. April 1918 erklärt worden war, die jedoch dem Druck türkischer Gebietsforderungen ausgesetzt war, wurde am 26. Mai 1918 mit deutscher Unterstützung die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Georgien verkündet, die jedoch nur bis zum Frühjahr 1921 Bestand hatte.
Sowjetrepublik und nationale Unabhängigkeit
Dieses spezifisch deutsch-georgische Verhältnis überdauerte auch die Sowjetisierung, die am 25. Februar 1921 mit der Ausrufung der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien begann. Am 21. Mai 1921 wurde der Beschluss über die Schaffung der Abchasischen SSR und ihre föderative Bindung an Georgien getroffen (1931 Umwandlung in eine Autonome Republik innerhalb Georgiens), am 16. Juli 1921 die Autonome Sowjetrepublik Adscharien gegründet und am 20. April 1922 das Autonome Gebiet Südossetien Georgien unterstellt. Unter dem Mantel der Korenizacija (Einwurzelung) wurde eine ethnisch-territoriale Zersplitterung vorgenommen, die Zündstoff für zukünftige Konflikte in sich barg. Zugleich setzte eine neue Welle georgischer Nationalbewegung ein, die 1924 in einen Aufstand mündete. 7.000 bis 10.000 Todesopfer waren zu beklagen, ca. 20.000 Menschen wurden verbannt, noch bevor in den Terrorjahren 1937/1938 eine ‚Enthauptung der nationalen Eliten‘ stattfand und zehntausende Georgier erschossen oder in den GULAG verschickt wurden.[9] Zwischen 1922 bis 1936 war Georgien als Teil der Transkaukasischen Föderation, 1936 bis 1991 als formal selbständige Unionsrepublik Teil der UdSSR.
Erst nach 1956 wuchs eine neue Generation in der Nationalbewegung heran, die bis Mitte der 1990er Jahre die politische Szene Georgiens beeinflusste: die Dissidenten. Unter ihnen waren der Anglistikprofessor Sviad Gamsachurdia (1939–1993) und der Musikwissenschaftler Merab Kostava (1939–1989), die von Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre vor allem über „Helsinki-Gruppen“ agierten und die Auseinandersetzung mit der georgischen Sprache und dem kulturellen Erbe mit Fragen der Menschenrechte verknüpften. Ebenso wie in Armenien und Aserbaidschan scheiterte am 14. April 1978 der Versuch des Obersten Sowjets, die Vorrangstellung von Staatssprachen per Verfassungsänderung abzuschaffen und ihnen gegenüber der russischen Sprache lediglich einen gleichberechtigten Status einzuräumen. Zugleich wurde unter KP-Sekretär Eduard Schewardnadse (Amtsinhaber 1972–1985) die Einführung von gleichberechtigten Amtssprachen in den Autonomen Republiken Adscharien (1989: ca. 380.000 Einwohner) und Abchasien (ca. 500.000 Einwohner) und im Autonomen Gebiet Südossetien (ca. 96.000 Einwohner)[10] gewährt.
Die Verfassungsdiskussionen und Sezessionsbestrebungen 1988/89 wurden dann zum Auslöser einer Massenbewegung. Der Zerfall der Kommunistischen Partei und des von ihr getragenen Institutionen-, Normen- und Wertesystems war unaufhaltsam. An die Spitze der Proteste in Tiflis setzte sich die National-Demokratische Partei (NDP) mit der Helsinki-Union, der Partei der Nationalen Unabhängigkeit und der Gesellschaft des Hl. Ilija, deren Hungerstreiks sich Tausende anschlossen. Am 9. April 1989 lösten sowjetische Fallschirmjäger eine gewaltfreie Demonstration vor dem Regierungsgebäude in Tiflis mit Spaten und Giftgas auf. 20 Georgier wurden getötet, Hunderte verletzt. Dieses traumatische Ereignis radikalisierte die georgische Gesellschaft. Am 28. Oktober 1990 kam es zu Mehrparteien-Wahlen zum Obersten Sowjet. Wahlsieger wurde das nationalistische Wahlbündnis „Runder Tisch – Freies Georgien“ (Mrgvali Magida – Tavisupali Sakartwelo). Es erhielt 62 Prozent der Wählerstimmen. Sein Vorsitzender Swiad Gamsachurdia wurde Vorsitzender des Obersten Sowjets Georgiens. Im Referendum über die staatliche Unabhängigkeit am 31. März 1991 entfielen 98,9 Prozent der abgegebenen Stimmen dafür. Am 9. April 1991 wurde die Unabhängigkeit Georgiens erklärt, am 26. Mai 1991 wurde Gamsachurdia zum ersten Präsidenten des unabhängigen Georgiens gewählt. Der Sieg konnte jedoch nicht mehr verbergen, dass Strategiedebatten – insbesondere um das Verhältnis zu den autonomen Republiken und zur Union – zur Zersplitterung der Nationalbewegung und das Land in einen Bürgerkrieg führten. So starben seit Oktober 1991 Georgier an mindestens zwei Fronten: beim Sturz Gamsachurdias durch die putschende Nationalgarde unter Tengiz Kitowani und paramilitärische Verbände (Mchedrioni unter Jaba Ioseliani) und in Abchasien. Am 22. Dezember 1991, keine sieben Monate nach der Wahl Gamsachurdias zum Staatspräsidenten, kam es zu einem bewaffneten Aufstand unter Mitwirkung von Teilen der georgischen Streitkräfte. Gamsachurdia floh in die russische Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus, wo er 1993 starb. Der georgische Staatsrat, das Führungsgremium der Putschisten, holte im März 1992 Eduard Schewardnadse (1928–2014) als Vorsitzenden und Interims-Präsidenten zurück nach Georgien.
1992 erklärte sich Abchasien für unabhängig. Schewardnadse entsandte die Nationalgarde, die jedoch nach blutigen Kämpfen von abchasischen Truppen zurückgeschlagen wurde. Es kam zu ethnischen Säuberungen in Abchasien. 250.000 ethnische Georgier mussten Abchasien verlassen, ca. 10.000 kamen ums Leben. 1993 folgten im Westen Georgiens bewaffnete Aufstände von Anhängern Gamsachurdias, die jedoch niedergeschlagen werden konnten. Erst 1995 waren nach Inkrafttreten eines Waffenstillstandes unter internationaler Vermittlung die politischen Verhältnisse in Georgien stabilisiert: Eine neue demokratische Verfassung wurde verabschiedet, die „Bürgerunion Georgiens“ unter dem Vorsitz des Präsidenten ging mit 108 von 233 Mandaten als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen am 5. November 1995 hervor. Schewardnadse wurde mit 72,9 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten gewählt und außenpolitisch näherte sich Georgien weiter dem Westen an.
Während das Land 1999 Mitglied im Europarat wurde und nach der Mitgliedschaft in EU und NATO strebte, brachen Wirtschaft und Infrastruktur zusammen, die Arbeitslosigkeit erreichte Höchstwerte, die Korruption nahm mafiöse Ausmaße an und die Bevölkerung verarmte rapide. Zugleich zeigte sich die „Kinderkrankheit“ der Nationalbewegung: Die Zersplitterung der politischen Kräfte in der Form von „persönlichen Gefolgschafts-“ oder „Bruderschaftsparteien“ ging weiter und spätestens seit Herbst 2001 veränderten sich die Parteienlandschaft und die Anhängerschaft des Präsidenten derart, dass er im Parlament ständig um neue Mehrheiten ringen musste.
Unter Führung von jungen Reformkräften wie Michail Saakaschwili (geb. 1967) und Nino Burschanadse (geb. 1964) kam es im Herbst 2003 zum Sturz der Regierung. 2004 trat Saakaschwili sein Amt als neuer Staatspräsident an und leitete einen Reformkurs ein, mit dem er vor allem die Korruption in Staat und Gesellschaft bekämpfte und das Land stärker an Westeuropa und vor allem die USA und die NATO annäherte. In einer am 6. Februar 2004 beschlossenen Verfassungsänderung war hierfür die Machtposition des Präsidenten zu Lasten des Parlaments und des Premierministers weiter gestärkt worden. Allerdings wurde Saakaschwilis autoritärer Führungsstil spätestens ab dem Augustkrieg mit der Russischen Föderation 2008 auch zu einem Problem. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2012 errang die Koalition "Georgiens Traum" unter dem Milliardär Bidsina Iwanischwili (geb. 1956) 85 der 150 Parlamentssitze und löste damit die "Vereinte Nationale Bewegung" Saakaschwilis ab. Bei den Parlamentswahlen 2016 konnte die Koalition „Georgiens Traum“ ihr Wahlergebnis von 2012 auf 115 von 150 Parlamentssitzen verbessern. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2013 setzte sich der Kandidat von „Georgiens Traum“, Georgij Margwelaschwili (geb. 1969), mit 62 Prozent durch. Allerdings wandelte sich mit der zugleich eingeführten Verfassungsänderung Georgien von einer Präsidialrepublik in eine parlamentarische Demokratie, die sich weiterhin europäischen Standards annäherte. Im Juni 2018 nominierte die regierende Partei „Georgischer Traum“ Mamuka Bachtadse zum neuen Premierminister, dessen Amt seit 2013 mit den Befugnissen eines Bundeskanzlers ausgestattet ist.
Deutsche in Georgien
Die Anzahl der Deutschen in Georgien[11] wird – ohne Bundesbürger – heute auf ca. 1.500 geschätzt. 1991 wurde der Verein "Assoziation der Deutschen Georgiens 'Einung'" registriert (2018: 2000 Mitglieder), der einen deutschen Kindergarten und ein Jugendtheater fördert. Zwischen 1991 und 2014 haben 1.683 Personen Georgien in Richtung Deutschland verlassen.[12]
Berichteten Reisende auch in früheren Jahrhunderten über „Georgien“, so intensivierten sich deutsche Forschungsreisen vor allem im 19. Jahrhundert. Namen wie Julius Klaproth (1783–1835), Moritz von Engelhardt (1779–1842), Friedrich Parrot (1792–1841), Karl Koch (1809–1879), Hermann Abich (1806–1886), Karl Hahn (1848–1925) und Gustav Radde (1831–1903) stehen stellvertretend für die Tradition deutscher Kaukasusforschung. Insbesondere Gustav Radde, der Begründer des Kaukasischen Museums in Tiflis (gebaut von Albert Salzmann), prägte durch Vortragsreisen, zahlreiche Publikationen und als Ansprechpartner für viele Kaukasusinteressierte das Georgienbild in Deutschland. Erkennt man auch heute noch auf dem ehemaligen Plechanov-Prospekt (heute David Aghmaschenebeli-Prospekt) die Spuren deutscher Architektur, so prägten unterschiedlichste Berufsgruppen das städtische Leben von Tiflis.[13] Literarische Spuren hinterließ vor allem Friedrich von Bodenstedt (1819–1892), der hier die Lieder des Mirza Schaffy aufzeichnete (mit über 160 Auflagen ein „Bestseller“ des 19. Jahrhunderts) und seine Beschreibung Die kaukasischen Völker und ihr Kampf um Freiheit verfasste. Der Karikaturist Oskar Schmerling (1863–1938) beeinflusste nicht nur die georgische Zeichenschule, sondern auch die armenischen und aserbaidschanischen Satirezeitschriften grundlegend.
Die Anfänge deutscher Siedlungen gehen auf das Jahr 1817 zurück. Waren es überwiegend wirtschaftliche und politische Gründe, die eine erste Gruppe zur Auswanderung, vor allem aus Württemberg, veranlassten, so gaben Pietismus und Separatismus den sogenannten „Harmonien“ – brüderlichen Gütergemeinschaften in Anlehnung an die zunächst harmonisch zusammenlebende Urgemeinde – religiösen Hintergrund und organisatorische Strukturen. Zunächst erhielten 40 auswanderungswillige Familien aus Schwaikheim (Oberamt Waiblingen) im September 1816 Pässe und machten sich auf den Weg entlang der Donau, über Ismail, Akirman und den Dnjestr nach Südrussland. Am 31. Dezember 1816 trafen 29 Familien in Großliebental bei Odessa/Odesa ein. Der kaukasische Befehlshaber, General Ermolov, signalisierte nach Sankt Petersburg/Sankt-Peterburg/Leningrad, dass er zur Aufnahme von 30 Familien bereit sei. Im späten Frühjahr 1817 machten sich 31 Familien (181/178 Personen[14]) auf den Weg über Cherson, Taganrog, Stavropol’ und Mozdok nach Tiflis, wo sie am 21. September 1817 eintrafen. Nach einer Überwinterung in Morkobi gründeten sie Ostern 1818 am Flusse Jora (ca. 37 km vom damaligen Tiflis) die Kolonie Marienfeld (heute: Sartitschala).
War damit die erste „Auswandererharmonie“ relativ glücklich in Georgien gelandet, sollte sich das Schicksal der nachfolgenden dramatisch gestalten. Dem Aufruf der Brüder Koch aus Marbach und Schlüchtern waren von April bis August 1817 über 1.300 Familien gefolgt, die sich in 14 Kolonnen zu je 230 bis 290 Personen von Ulm aus über die Donau auf die Reise machten. Ca. 1.100 Menschen kamen allein während einer 40-tägigen Quarantäne bei Ismail um, zahlreiche Familien gaben ihre Reisepläne bei Odessa auf und gründeten dort die Kolonie Hoffnungstal. Andere schlossen sich den Unverdrossenen zu einer Weiterreise an. Da Ermolov nach Petersburg meldete, dass die russische Verwaltung in Tiflis bei einer Masseneinwanderung überfordert sei und die Aufnahme abwehrte, warben Deputierte direkt beim Zaren in Moskau/Moskva um eine Sondererlaubnis zur Weiterreise. Mit dieser reisten im Frühjahr zehn Trecks mit je 50 Familien weiter über Cherson, Rostov und Mosdokin in das Georgische Gouvernement, in dessen Verwaltungszentrum sie zwischen August und November 1818 eintrafen. Insgesamt waren so 1817/18 in zwei „Auswandererharmonien“ 486 Familien in Südkaukasien gelandet, wo sie nach Mariental die Kolonien Elizabettal (heute Asureti, Landkreis Tetritskaro), Aleksandersdorf (damals acht Werst von Tiflis entfernt mit 26 Familien, heute als Didube Teil des Stadtbezirkes von Tschughureti um die ehemalige Voronzov/Plechanov-Str.), Petersdorf und Katharinenfeld gründeten. Letztere war als „Ekaterinenfeld“ zunächst – wie Helenendorf und Annenfeld im heutigen Aserbaidschan – in der Nähe von Elizavetpol’ errichtet worden, jedoch erfolgte Ende 1819 aufgrund der schlechten klimatischen Bedingungen eine Umsiedlung in das Gouvernement von Tiflis (heute Bolnisi). Eine Besonderheit stellt die Gründung von Neu-Tiflis dar, die ca. 60 Handwerkerfamilien aus allen Kolonien zusammenfasste, ca. zwei Kilometer vom damaligen Stadtkern entfernt entstand und 1861 eingemeindet wurde (heute Teil des Stadtbezirkes Tschughureti). Während der folgenden 100 Jahre stieg die Zahl der Tochter- und Neugründungen in Georgien weiter an.
Während die Winzerdörfer nach Enteignungen 1916–1918 durch den Aufbau eines Genossenschaftswesens mit überregionalem Vertriebsnetz in den 1920er Jahren nochmals eine Blütezeit erlebten, setzte in den 1930er Jahren der Niedergang ein. Die Zeit des Stalinschen Terrors führte zu einer „Enthauptung“ sowohl der ländlichen als auch städtischen deutschen Gemeinden. Nachdem im Februar/März 1934 zahlreiche Verhaftungen unter der deutschen Bevölkerung in Tiflis gemeldet worden waren, die keinerlei belastendes Material zutage förderten, verschärften sich die antideutschen Aktionen im Juni 1934. Im Bericht des Generalkonsulats vom 22. Juni 1934 wurde festgestellt: „Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Deutschen, und zwar meistens Personen, die in staatlichen Stellungen sind, Beamte, Angestellte u. dgl. sind auf die GPU[15] bestellt worden, wo man ihnen in energischer Form das Ansinnen stellte, fortlaufend Material über die Stimmung der deutschen Bevölkerung zu liefern [...] man hat ihnen [...] erklärt, dass sie bei fortgesetzter Weigerung in ihren Ämtern und Stellungen nicht weiter bleiben könnten, sondern demnächst mit dem Verlust ihrer Ämter zu rechnen hätten.“ Ein halbes Jahr später spitzte sich die Situation weiter zu: „Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass der mit der Ermordung Kirovs einsetzende Terror, dessen sich auch in Transkaukasien das Innenkommissariat (GPU) mit besonderem Eifer befleißigt, hier besonders auf Kosten des deutschen Elements ausgetragen wird [...]. Über die Verhaftungen deutsch-evangelischer Geistlicher, die kurz vor Weihnachten (1934)[16] erfolgt sind, ist an anderer Stelle berichtet (worden).“[17] Die Spannungen sollten in den folgenden Jahren nicht geringer werden. Der Jahresbericht des Generalkonsulats in Tiflis schilderte die Ereignisse 1935 folgendermaßen:
„Das Jahr 1935 glich einem Feldzug gegen das deutsche Element. In Aserbaidschan sind aus den deutschen Kolonien Helenendorf und Annenfeld insgesamt etwa 600 Menschen, Männer, Frauen und Kinder, ausgesiedelt und in zwei Transporten nach dem Norden Rußlands (Leigube in Karelien am Weißmeerkanal) verschickt worden. Es war dies die erste Massenverschickung Deutscher aus Transkaukasien überhaupt. In Georgien ist man anders vorgegangen. Man hat hier nur die männlichen Kolonisten, soweit sie unbequem waren oder verdächtig erschienen, entfernt, indem man sie unter nichtigen Vorwänden verhaftete […]. Dieses Verfahren hatte den Vorteil, die schutzlos zurückgebliebenen Frauen und Kinder zwangsweise ins Kollektiv zu stecken oder sie sonst als Staatsarbeiter nach Gutdünken verwenden zu können. Das Strafverfahren [...] war in allen Fällen ziemlich einheitlich. Die Anklage lautete auf Spionage, illegale Verbindung mit dem Ausland, Propaganda für eine auswärtige Macht, Zellenbildung einer sowjetfeindlichen Partei, Verbreitung verbotener Literatur, Aussprengung falscher Gerüchte usw. [...] Gerüchte behaupten, dass bei den Voruntersuchungen auch regelrechte Folterungen Deutscher vorgekommen seien. [...] Die evangelisch-lutherischen Kirchen [...] sind durch Verhaftungen der Geistlichen, der Küster und Kirchenratsmitglieder[18] ihrer ordentlichen Organe beraubt [...]“.[19]
Wer aus den Reihen der wirtschaftlichen oder geistlich-kulturellen Elite bei diesen „Reinigungsaktionen“ noch nicht betroffen war, gehörte fast ausnahmslos zu den Opfern der Jahre 1937/38. Noch im Frühjahr 1938 verschärften sich die Übergriffe nach nationalen Merkmalen. In den Erlassen des Politbüros des ZK der KP vom 31. Januar und 23. März 1938 wurden die Tätigkeit von Polen, Litauern, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Iranern, Chinesen und Rumänen – ob Ausländer oder Sowjetbürger – in verantwortlichen Positionen und der Rüstungsindustrie als „unnormal“ bezeichnet und die „Säuberung“ veranlasst. Nicht nur deutsche Fachkräfte in Industrie und Landwirtschaft, sondern auch Wissenschaftler, Lehrer, Geistliche, Künstler und Studenten wurden verfolgt und ermordet. Schließlich fand das Kapitel georgischer Bürger deutscher Nationalität sein trauriges Ende, als dem Ukaz vom 28. August 1941 über die Auflösung der Wolgarepublik im September/Oktober 1941 analoge Beschlüsse für Kaukasien folgten und umgesetzt wurden.[20] Am 21. September 1941 kam es zunächst auf der Grundlage des Außerordentlichen Erlasses des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR Nr. 698 zur Räumung in den Gebieten Krasnodar, Ordžonikidze und Stavropol’, 129.776 Personen deutscher Abstammung mussten ihre Heimat in Richtung Mittelasien verlassen. Ihnen folgten die Deutschen aus Nordossetien: 2.415, Tschetscheno-Inguschetien: 819, Daghestan: 7.306 und Kalmykien: 5.843. Das bedeutete eine Gesamtzahl der Deportierten aus Nordkaukasien von 192.692 Männern, Frauen und Kindern deutscher Herkunft. In Südkaukasien vollzog sich die Vertreibung auf Grundlage des Erlasses vom 8. Oktober 1941 / Nr. 744 des Staatlichen Verteidigungskomitees. Als Räumungsfrist wurde der Zeitraum 15.–30. Oktober 1941 festgelegt. „Auszusiedeln sind 23.580 aus Georgien, 22.741 aus Aserbaidschan, 212 aus Armenien“[21] – hieß es in dem Dokument. Damit kam aus den drei südkaukasischen Republiken ein weiteres Kontingent von insgesamt 46.533 Deutschen hinzu, die innerhalb weniger Tage ihr verbliebenes Vermögen und ihre Rechte als Sowjetbürger verloren. Über Baku und das Kaspische Meer und in Viehwaggons über Krasnovodsk nach Kasachstan abtransportiert, mussten sie – soweit sie am Leben geblieben waren – um ihr Überleben kämpfen. Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit für Männer und Arbeitslager für Frauen sowie 12 Jahre „Kommandantensystem“ prägten eine ganze Generation. Tausende mussten diesen Gewaltakt mit ihrem Leben bezahlen, bis heute sind Schicksale der zerrissenen Familien nicht restlos aufgeklärt.[22] Damit teilten sie das Los mit anderen kaukasischen Völkerschaften, die den Exzessen von Vernichtung und Vertreibung des totalitären Regimes unter Stalin ausgesetzt waren.
4. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Eva-Maria Auch: Öl und Wein am Kaukasus. Deutsche Forschungsreisende, Kolonisten und Unternehmer im vorrevolutionären Aserbaidschan. Wiesbaden 2001.
- Eva-Maria Auch (Hg.): „Entgrenzung“ – Deutsche auf Heimatsuche zwischen Württemberg und Kaukasien. Begleitheft zur Wanderausstellung anlässlich des 200. Jubiläums deutscher Ansiedlung in Südkaukasien. Berlin 2017.
- Timothy K. Blauvelt, Jeremy Smith: Georgia after Stalin. Nationalism and Soviet Power. London 2016.
- Marc Junge, Bernd Bonwetsch (Hg.): Bolschewistische Ordnung in Georgien. Der Große Terror in einer kleinen kaukasischen Republik. Oldenburg 2015.
- Barbara Christophe: Metamorphosen des Leviathan in einer post-sozialistischen Gesellschaft. Georgiens Provinz zwischen Fassaden der Anarchie und regulativer Allmacht. Bielefeld 2005.
- Frederick Coene: The Caucasus. Routledge 2011.
- Bruno Coppieters, Robert Legvold (Hg.): Statehood and Security: Georgia after the Rose Revolution. Cambridge, Mass. 2005.
- Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (Hg.): Traumland Georgien. Deutungen zu Kultur und Politik. Redaktion: Manfred Sapper, Volker Weichsel u. a. (Osteuropa Heft 7, 2018). Berlin 2018.
- Deutsche und Georgier vom Mittelalter bis heute. Germans and Georgians from the Middle Ages until Today. Tbilisi 2013.
- Gertrud Pätsch (Hg.): Das Leben Kartlis: eine Chronik aus Georgien 300–1200. Leipzig 1985.
- Heinz Fähnrich: Geschichte Georgiens von den Anfängen bis zum Mongolenherrschaft. Aachen 1993.
- Philipp H. Fluri, Eden Cole: From Revolution to Reform. Georgia’s Struggle with Democratic Institution Building and Security Sector Reform. Wien, Genf 2005.
- Uwe Halbach: Georgien im Assoziierungsprozess mit der EU. SWP aktuell, März 2015: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A30_hlb.pdf (Abruf 14.06.2018).
- Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Frankfurt/M. 2014.
- George Hewitt: Discordant Neighbours. A Reassessment of the Georgian-Abkhazian and Georgian-South Ossetian Conflict. Leiden, Boston 2013.
- Ghia Nodia, Alvaro Pinto Scholtbach: The Political Landscape of Georgia: Political Parties: Achievements, Challenges and Prospects. Delft 2006.
- Oliver Reisner: Die Schule der georgischen Nation. Eine sozialhistorische Untersuchung der nationalen Bewegung in Georgien am Beispiel der „Gesellschaft zur Verbreitung der Lese- und Schreibkunde unter den Georgiern. Wiesbaden 2005.
- Awtandil Songhulaschwili: Die Deutschen in Georgien. Tbilissi 1997.
- Daphne Springhorn: Deutsche in Georgien. Tbilisi 2004.
- Ronald Grigor Suny: The Making of the Georgian Nation. 2nd Edition. Bloomington, Indianapolis 1994.
- Nestan Tatarashvili: Die deutschen Siedlungen und das deutsche architektonische Erbe in Georgien. German Settlements and Architectural Heritage in Georgia. Tbilisi 2018.
- Christoph Zürcher: Post-Soviet Wars: Rebellion, Ethnic-Conflict, and Nationhood in the Caucasus. New York 2007.
Weblinks
- https://www.georgienseite.de (Das Magazin der Georgien-Seite)
- www.kulturgeorgien.de/ (Georgisches Kulturzentrum Berlin)
- http://www.goethe.de/ins/ge/prj/dig/deindex.htm (Goethe-Institut Tbilissi)
- german-georgian.archive.ge/de (Deutsch-Georgisches Internetarchiv)
- www.kaukasusdeutsche.de (Fachportal zur Geschichte und Kultur der Deutschen in Kaukasien)
- agdm.fuen.org/member/Deutsche-Minderheit-in-Georgien (Deutsche Minderheit in Georgien)
Anmerkungen
[1] Fähnrich: Geschichte Georgiens.
[2] National Statistics Office of Georgia: Number of Population as of January 1 2018, 30.4.2018, S. 1. Die Differenz aus der Summe der Einwohnerzahl von städtischer und ländlicher Bevölkerung zur Gesamtbevölkerungszahl ist dadurch bedingt, dass die Zahlen auf die zweite Stelle nach dem Komma aufgerundet wurden.
[3] National Statistics Office of Georgia: 2014 General Population Census. Main Results. General Information, 28.04.2016.
[4] National Statistics Office of Georgia: Stastical Yearbook of Georgia 2017, S. 34–35.
[5] Pinggéra, K.: Die Kirchen des Orients im Überblick, Marburg 2006, S. 11–13. (Man.)
[6] Lang, D. M.: The Last Years of the Georgian Monarchy, 1658–1831. New York 1957, S. 70ff.
[7] Tergdaleulebi – abgeleitet von „die aus dem Terek tranken“, also den Fluss Terek überschritten hatten und als Bildungsmigranten mit neuen Ideen nach Hause kamen.
[8] Vgl. Kurzbiographien bei Fähnrich: Geschichte Georgiens, S. 397–412. Ausführlicher bei Reisner: Die Schule der georgischen Nation.
[9] Vgl. Junge, Bonwetsch: Bolschewistische Ordnung in Georgien.
[10] Ausführlicher bei Barbara Pietzonka: Ethnisch-territoriale Konflikte in Kaukasien. Eine politisch-geographische Systematisierung. Baden-Baden 1995, S. 129–138.
[11] vgl. www.goethe.de/ins/ge/prj/dig/his/einung/deindex.htm (Abruf 14.06.2018).
[12] www.bva.bund.de/DE/Services/Buerger/Migration-Integration/Spaetaussiedler/Statistik/Sonderstatistiken_Zeitreihen/Sonderstatistiken_Zeitreihen_text.html (Abruf 20.08.2021).
[13] Vgl. insbesondere die Lebensberichte in Springhorn: Deutsche in Georgien.
[14] Je nach Quelle schwanken die Angaben über Personen der einzelnen Ansiedlungen.
[15] Der Sicherheitsdienst in der früheren Sowjetunion wurde mehrfach umorganisiert und trug verschiedene Bezeichnungen: 1917VČK (We-TSCHe-Ka) = Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, ab 1922 GPU (Glavnoje Politčeskoje Upravlenije = Politische Hauptverwaltung innerhalb des NKWD), ab 1923 OGPU (Vereinigte staatliche politische Verwaltung), ab 1934 GUGB (Hauptverwaltung für Staatssicherheit innerhalb des NKWD/Nacional’nyj komitet vnutrennych del = Nationales Komitee für Innere Angelegenheiten), ab 1941 NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit), ab 1946 MGB (Ministerium für Staatssicherheit) und ab 1954 KGB (Komitee für Staatssicherheit), welches am 6. November 1991 aufgelöst wurde.
[16] Zum Jahresende 1934 waren auch Lehrer und andere Berufsgruppen des öffentlichen Lebens in den Kolonien verhaftet oder mit Berufsverbot belegt worden.
[17] Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (fortan PA AA), IV/25- 959/10, Abt. Pol. IV. Bericht des Generalkonsulats v. 11. Januar 1935.
[18] Nach bisherigen Ermittlungen der Autorin wurden von 31 im untersuchten Zeitraum in Transkaukasien aktiven Pastoren 15 verhaftet, verbannt und/oder ermordet.
[19] PA AA, a.a.O., Bericht v. 11. Dezember 1935.
[20] Vgl. Bugaj, N.F. (Hg.): Iosif Stalin – Lavrentij Berija: Ich nado deportirovat'. Dokumenty, fakty, kommentarii [Josef Stalin an Lavrentij Berija: Man muss sie deportieren. Dokumente, Fakten, Kommentare], Moskva 1992; Ders.: Repressirovannye narody Rossii: čečency i inguši. Dokumenty, fakty, kommentarii [Repressierte Völker Russlands. Dokumente, Fakten, Kommentare], Moskva 1994.
[21] Zitiert nach Alfred Eisfeld, Viktor Herdt (Hg.): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln 1996, S.104–106. Ausgenommen blieben deutsche Frauen, die mit „Einheimischen“ verheiratet waren.
[22] Vgl. die literarische Verarbeitung des Schicksals einer kaukasusdeutschen Frau durch Arnold Reber in seinem noch zu wenig beachteten Roman „Die Namenlose“, Frankfurt/M. 1994.
Zitation
Eva-Maria Auch: Georgien. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2019. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32645 (Stand 29.01.2021).
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