Patenschaften

1. Genese

Begriffsgeschichte

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Patenschaftsecke in der Heimatstube
Sensburg (heute poln. Mrągowo).
[Archiv Gerhart-Hauptmann-Haus,
Düsseldorf]

Das säkulare Phänomen der Patenschaften zwischen westdeutschen und ehemaligen ostdeutschen Städten, Gemeinden und Kreisen sowie über Schulen und landsmannschaftliche Verbände der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Rhetorisch allerdings knüpften ihre Initiatoren an Vorläufer aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg an. Als Bezugspunkt diente insbesondere die Organisation der „Ostpreußenhilfe“, welche finanziellen Beistand für die im Ersten Weltkrieg zerstörten ostpreußischen Städte und Gemeinden bot. Städtisch bzw. regional organisierte Kriegshilfevereine des Deutschen Reiches sammelten Geld für den Wiederaufbau, aber auch für Maßnahmen zur Erhaltung des so genannten „Deutschtums“. In diesem Kontext sprach man bereits um 1915 von ‚Paten‘. Auch so genannte „Schutzvereinspatenschaften für Gemeinden oder Schulen in den Grenzlanden“, die von Deutschtumsverbänden zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere in Regionen des ehemaligen Österreich-Ungarns initiiert worden waren, dienten als Anknüpfungspunkte für die Patenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Form der retrospektiven Traditionalisierung stützte sich auf die Idee der Protektion innerhalb einer so genannten „Schicksalsgemeinschaft“ und förderte die nationale Identitätskonstruktion in der Nachkriegszeit besonders durch die Integrationsmaßnahme, die in der Bundesrepublik Deutschland auch als „West-ostdeutsches Patenschaftswerk“ bekannt war.

Träger, Gebrauch

In Abgrenzung zu den internationalen Städtepartnerschaften sind die Städtepatenschaften den Organisationen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler mit Bezug zum Herkunftsort vorbehalten. Neben dem Begriff der Patenschaften spricht man in Bayern auch von Obhutsverhältnissen. Bezogen auf Landespatenschaften findet sich zudem der Begriff der Schirmherrschaft.

Das „West-ostdeutsche Patenschaftswerk“ zwischen westdeutschen Gemeinden und den Flüchtlings- bzw. Vertriebenenverbänden ist zu unterscheiden vom „Patenschaftswerk West – Ost“, das, vom Hilfswerk der evangelischen Kirche 1949 gegründet, der Nothilfe für die Sowjetische Besatzungszone bzw. die Deutsche Demokratische Republik diente.

Fremdsprachige Entsprechungen

Englisch: patronage, sponsorship

2. Definition

Die ersten Patenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zunächst ohne einen konkreten historischen Bezug etwa zur Ostpreußenhilfe, sondern vielmehr mit dem Ziel, die Gemeinschaften der Flüchtlinge und Vertriebenen zu unterstützen, Sammelstellen für gerettete Akten und Materialien zu schaffen, aber vornehmlich auch um administrative Strukturen der früheren Gebietskörperschaften fortzuführen und somit symbolisch die bestehenden Territorialansprüche zu unterstützen. Zu den frühesten Patenschaften zählten die Verbindung Erlangens mit der Brüxer Heimatgemeinschaft (1949) und Goslars patenschaftliche Beziehung zu Brieg/Brzeg bzw. den Brieger Bürgern (1950). Letztere gilt offiziell als die erste „ost-westdeutsche Städtepatenschaft“.

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Gedenkstein der Patenstadt
Peine für Falkenberg (heute
poln. Niemodlin).
[Foto: Regina Löneke]

Mit dem Gründungsschwerpunkt in den 1950er Jahren entstanden insgesamt ca. 400 Patenschaften, darunter auch einige wenige „Erneuerungen“ früherer Beziehungen zwischen ostpreußischen und westdeutschen Gemeinden sowie Patenschaften zwischen Bundesländern und Landsmannschaften. Sie wurden zumeist öffentlichkeitswirksam im Rahmen einer Festveranstaltung verkündet und mit einer Patenschaftsurkunde bestätigt. Für ihre Einrichtung und Ausgestaltung konnte auf „Richtlinien […] für die Übernahme von Patenschaften“ sowie „für die Pflege ostdeutscher Kulturwerte und für die kulturelle Betreuung der Heimatvertriebenen“ zurückgegriffen werden, die bundesweit unter dem Sammelbegriff Patenschaftsrichtlinien Verbreitung fanden. Sie vermittelten ein Repertoire an Gestaltungsmöglichkeiten, deren Einzelmaßnahmen wie beispielsweise das Führen von Heimatkarteien, die Einrichtung von Heimatstuben oder die Benennung von Straßen nach „ostdeutschen Gemeinden“ anfangs selbstverständlich von westdeutschen Stadtverwaltungen aufgegriffen und seitens der Vertriebenenverbände oftmals auch eingefordert wurden. Diese Standards führten bundesweit zu recht einheitlichen Erscheinungsformen in der patenschaftlichen Gedenkkultur. Finanziert wurden und werden sie im Rahmen der Kulturförderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz durch die Bundesländer, die den Kreisen, Kommunen und Gemeinden entsprechende Mittel zur Verfügung stellten. Mit der Erfüllung ihrer Integrationsaufgabe, dem Zurücktreten der Erlebnisgeneration sowie dem politischen Bedeutungsverlust werden Patenschaften seit den 1980er Jahren zunehmend auf lokaler Ebene gekündigt oder zu Partnerschaften mit den heutigen Kommunen, Gemeinden und Kreisen umgebildet.

3. Kontroversen

Kritik an den Patenschaften, dem damit verbundenen Gedenkwesen und der politischen Einstellung ihrer Akteure wurde bereits Ende der 1950er Jahre geübt. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren galten sie als revanchistische oder zumindest revisionistische Machtmittel, da innerhalb der Patenschaften der Anspruch auf ehemalige Gebiete trotz der abgeschlossenen Ostverträge weiter aufrechterhalten wurde.

Parallel zu den bestehenden Städtepatenschaften im Kontext der Flüchtlings- und Vertriebenenfürsorge entwickelten sich seit den 1970er Jahren teils gegen den Willen oder zumindest in Konkurrenz zu den Vertriebenenverbänden neue Partnerschaften mit den Städten in Ost- und Ostmitteleuropa. Die Vertriebenenverbände behielten sich bezüglich der neuen Verbindungen ein Einspruchsrecht vor. Einerseits befürchteten ihre Funktionäre die Verdrängung der Patenschaften und wehrten sich dagegen unter dem Motto „Patenschaften sind unkündbar“. Andererseits kritisierten sie die damit verbundene Anerkennung der Kommunen als nicht mehr dem Deutschen Reich angehörig. Ihrer Ansicht nach widersprach dies den patenschaftlichen Vereinbarungen, in denen die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen und ein geeintes Deutschland gefordert wurden. Im Gegensatz dazu vermittelten und förderten viele Heimatortsgemeinschaften insbesondere aus Südosteuropa diese partnerschaftlichen Verbindungen.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung: In der Obhut Bayerns. Sudeten- und ostdeutsche Patenschaften im Freistaat Bayern. München [1989].
  • K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974. München 2010 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 120).
  • Alfons Perlick: Das West-Ostdeutsche Patenschaftswerk in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Berichte und kulturelle Aufgaben. Mit einem Verzeichnis der west-ostdeutschen Patenschaften in der Bundesrepublik. Düsseldorf 1961 (Schriftenreihe für die Ost-West-Begegnung, Kulturheft 38).
  • Hans-Georg Pütz: Gumbinnen heißt heute Gusev. Bielefelds Patenschaft mit Gumbinnen – Ein Kind des Revanchismus. Bielefeld 1986.
  • Ute Reichert-Flögel: Ostdeutsche Patenschaften heute. [Bonn 1988].

Zitation

Cornelia Eisler: Patenschaften. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2011. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32787 (Stand 13.09.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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