Alldeutscher Verband
1. Kurzbeschreibung
Der „Alldeutsche Verband“ war ein überparteilicher politischer Agitationsverein, der imperialistische, völkische und im Laufe der Jahre zunehmend klar formulierte antisemitische Positionen vertrat. Die am 9. April 1891 als „Allgemeiner Deutscher Verband“ (ADV) in Berlin gegründete und im Juli 1894 in „Alldeutscher Verband“ (AV) umbenannte Organisation wurde am 13. März 1939 von der nationalsozialistischen Regierung aufgelöst.
2. Geschichte des Verbands
Die Gründung des ADV im Deutschen Reich fällt in eine Zeit der Radikalisierung deutschnationaler Ideen und Ideologien. Auch in Österreich entstand 1891 unter Georg von Schönerer (1842–1921) die ‚Alldeutsche Bewegung‘ (1896 in ‚Alldeutsche Vereinigung‘ umbenannt) als Abspaltung von der deutschnationalen Partei. Schönerers großdeutsch ausgerichtete Politik galt vielen Mitgliedern des AV als vorbildhaft und festigte das gemeinsame Ziel der Schaffung eines ‚Mitteleuropa‘ unter deutscher Führung.
Konkreter Anlass für die Gründung des ADV war der Helgoland-Sansibar-Vertrag (Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland über die Kolonien und Helgoland) von 1890, den rechtsnationale Kreise als nachteilig für Deutschland einschätzten. Sie warfen der Regierung vor, die imperialen Interessen Deutschlands zu verraten. Der ADV seinerseits wollte dafür eintreten, das weltpolitische Gewicht Deutschlands zu stärken.
Bereits nach kurzer Zeit hatte der ADV mit finanziellen und personellen Problemen zu kämpfen. Erst die Neustrukturierung unter Ernst Hasse (1846–1908) in den Jahren 1893/94 (die mit der Umbenennung in ‚Alldeutscher Verband‘ ihren Abschluss fand) führte die Organisation aus der Krise. Unter dem Vorsitz Hasses legte der AV seine Schwerpunkte zum einen auf die Stärkung des Deutschtums – das heißt auf die Unterstützung der Deutschen und der deutschen Kultur im Ausland bei gleichzeitiger Bekämpfung der nationalen Minderheiten in Deutschland – und zum anderen auf den Ausbau der Weltmachtstellung Deutschlands durch Verstärkung der Flotte und Expansionspläne in Übersee. Die Feinde des Deutschen Reiches sah der AV sowohl in Frankreich und England als auch in Russland.
Im Laufe der Jahre wurden die Positionen des AV immer radikaler. Mit der Verbandstagung von Plauen 1903 ging der AV von der punktuellen Kritik an der Regierung in die ‚nationale Opposition‘ über. Die neue Satzung formulierte zudem explizit den Rassegedanken. Die Haltung gegenüber Juden, deren Mitgliedschaft umstritten, aber zulässig war, verhärtete sich, bis Juden 1919 ganz aus den Reihen des AV ausgeschlossen wurden. Starke Hetze gegen sie betrieb vor allem Heinrich Claß (1868–1953), der 1908 den Vorsitz des AV übernahm und bis zu dessen Auflösung 1939 behielt.
Unter seiner Führung wurden die kolonialpolitischen Bestrebungen des AV weitgehend ersetzt durch das Ziel der Schaffung eines starken, von Deutschland im Bündnis mit Österreich-Ungarn angeführten ‚Mitteleuropa‘: „Es erfolgte ein Wechsel von der Welt- zur Kontinentalpolitik“[1]. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde als „heilige Stunde“[2] begrüßt. Nun schienen die Ziele des AV in greifbare Nähe gerückt: Zum einen sollte der Kolonialbesitz in Afrika vergrößert werden, zum anderen ein breiter Grenzstreifen westlich (Lothringen, Flandern) und östlich (Baltikum) des Deutschen Reiches annektiert werden zum Zwecke der Konsolidierung ‚Mitteleuropas‘. War bereits vorher die radikale Germanisierung nicht-deutscher Bevölkerungsgruppen im Reich propagiert worden, so plädierte der AV nun für eine Aussiedlung dieser Personen.
Die Niederlage des Deutschen Reiches und die Gründung der Weimarer Republik bedeutete für den AV eine Zäsur. Seine Bedeutung sank ebenso wie die Mitgliederzahlen. Viele Angehörige des AV traten dem 1919 gegründeten deutsch-völkischen ‚Deutschen Schutz- und Trutzbund‘ bei. Gleichzeitig verschärfte sich der Ton der Alldeutschen. In den ersten Jahren der Republik liebäugelte Heinrich Claß mit Putschversuchen, doch spätestens Mitte der 1920er Jahre wandte er sich legalen Methoden zu, um die Demokratie auszuhöhlen und zum Einsturz zu bringen.
In dieser Entwicklung sowie in ihrem Gedankengut durchaus mit den Nationalsozialisten vergleichbar, unterschieden diese beiden Gruppierungen sich fundamental in Organisation und Wirkungsweise. Die NSDAP war eine moderne Partei, die eine breite Zielgruppe ansprechen wollte, während der AV ein kleiner, vormoderner Altherrenbund blieb. Folgerichtig war es die NSDAP, die sich vom AV abwandte. Als Wegbereiter für nationalsozialistisches Gedankengut erhielt der AV nach der Machtübernahme 1933 jedoch eine Sonderbehandlung und wurde nicht gleichgeschaltet. Erst im Jahr 1939 löste die Regierung ihn mit der Begründung auf, die vom AV verfolgten Ziele seien nun erreicht worden und sein Weiterbestehen überflüssig.
3. Organisation
Der AV war keine Massenorganisation. Die Mitgliederzahl, die 1901 bei 22.000 lag, konnte im Laufe des Ersten Weltkriegs auf 36.000 gesteigert werden. Nach 1918 sank sie beständig: Bei der Auflösung 1939 zählte der Verband noch 8.000 Mitglieder.
Als elitäre, antisozialistisch ausgerichtete Organisation hatte der AV kein Interesse an Mitgliedern aus der Arbeiter- oder der Unterschicht. Er rekrutierte sich aber auch nur zu einem kleinen Prozentsatz aus der Oberschicht: Aufgrund seiner völkischen und antikapitalistischen Ausrichtung war der AV für Adel oder Großindustrielle wenig attraktiv. Seine vorwiegend männlichen Mitglieder entstammten mehrheitlich dem protestantisch geprägten Bildungsbürgertum – höhere Beamte, Lehrer, Freiberufler, Journalisten, Professoren. Auch Auslandsdeutsche konnten beitreten. Der AV konnte trotz seiner eher geringen Größe und Finanzstärke seine Ideen in der Gesellschaft verbreiten, denn „viele Alldeutsche hatten einflussreiche, Propaganda ermöglichende Positionen in Betrieben, in der Verwaltung oder im Bildungswesen.“[3]
Der AV war in Ortsgruppen organisiert (mit mindestens 30, ab 1903 mindestens zehn Mitgliedern), die relativ frei agierten und Satzungen beschließen durften, die sie allerdings dem geschäftsführenden Ausschuss zur Genehmigung vorlegen mussten. Neben den Ortsgruppen im Deutschen Reich gab es bis zu 30 Ortsgruppen Auslandsdeutscher. Der zweimal im Jahr tagende zentrale Gesamtvorstand wählte sowohl einen geschäftsführenden Ausschuss als auch eine Hauptleitung (von drei bis sieben Personen), aus denen wiederum ein Vorsitzender hervorging. Die Position dieses Vorsitzenden war unangefochten, wie sich nicht zuletzt an der 31 Jahre währenden Amtszeit von Heinrich Claß ablesen lässt. Rainer Hering resümiert: „Der AV praktizierte schon lange vor der NSDAP […] das ‚Führerprinzip‘.“[4]
Der AV finanzierte sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden, die insgesamt kaum die Kosten des Vereins deckten. Ab 1903 gab es daher eine freiwillige Selbstbesteuerung zahlungskräftiger Mitglieder, den so genannten ‚Alldeutschen Wehrschatz‘. Überlebenswichtig waren außerdem die unter der Leitung von Heinrich Claß fließenden Gelder aus der rheinisch-westfälischen Industrie.
Verbandsorgan des AV waren ab 1894 die wöchentlich herausgegebenen Alldeutschen Blätter. Nach 1920 erschienen sie aufgrund finanzieller Engpässe nur noch vierzehntäglich. Die letzte Ausgabe datiert vom 5. März 1939. Der AV veröffentlichte darüber hinaus zahlreiche Flugschriften sowie zwischen 1897 und 1911 16 Hefte mit dem Titel Der Kampf um das Deutschtum. Besondere Bedeutung kommen den weithin rezipierten Schriften von Heinrich Claß zu. Er publizierte unter anderem 1912 unter dem Pseudonym Daniel Fryman Wenn ich Kaiser wär sowie 1917 die Flugschrift Zum deutschen Kriegsziel.
4. Der Alldeutsche Verband und ‚Mitteleuropa‘
„Gedenke, daß du ein Deutscher bist“ lautete der Wahlspruch bei der Gründung des ADV. Die deutschnationale Ausrichtung war von Anfang an in den Verlautbarungen und Zielen des AV greifbar. Das Auslandsdeutschtum sollte gestärkt, innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches eine strikte Germanisierungspolitik verfolgt werden. Dies diente vor allem als Abwehr gegenüber der beschworenen ‚panslawischen Gefahr‘. So heißt es in einer Rede des Agitationsausschusses von 1891: „Gegenüber dem an unsern Ostgrenzen drohenden panslawistischen Ansturm ist die Germanisierung unserer Ostmark wichtiger als die unzuverlässige Freundschaft der im Grunde ihres Herzens deutschfeindlichen Polen.“[5] 1899 proklamiert der AV: „Der Kampf gegen das polnische Volk ist einer der Riesenkämpfe, die wir noch auszufechten haben“[6].
Die Notwendigkeit dieses Kampfes begründet der AV zunehmend mit rassistischen Argumenten. In den Alldeutschen Blättern heißt es bereits 1894:
Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellenbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken […] ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten […]. Deutsche Kolonisation, deutscher Gewerbefleiß und deutsche Bildung […] sollen bis nach Kleinasien als ein Bindemittel dienen, durch das sich große und zukunftsreiche Wirtschaftsgebiete uns angliedern […].[7]
In diesem Text zeigt sich das anfänglich verfolgte Ziel einer Schaffung ‚Großdeutschlands‘ durch Zusammenschluss mit den nördlichen und westlichen Teilen Österreich-Ungarns (Cisleithanien; inoffiziell auch ‚Deutsch-Österreich‘ genannt) zu Lasten der dort lebenden nicht-deutschen Bevölkerung. Die verschiedenen Gruppen der deutschen Minderheit im Osten und Süden der Donaumonarchie sollten zur Erlangung dieses Ziels auf deutschnationale Linie gebracht werden, was jedoch nicht zur Zufriedenheit des AV gelang, da viele Angehörige der deutschen Minorität sich eher der Krone in Wien als dem Deutschen Reich zugehörig fühlten. So bemühte man sich fortan um „die ‚germanisatorische‘ Durchdringung des Gesamtstaates“[8]. Zu erreichen suchte man diese durch Unterstützung verschiedener Vereine und Institutionen, unter anderem der 1906 gegründeten ‚Ungarländisch-Deutschen Volkspartei‘ (UDVP). Deren Einfluss genügte jedoch nicht zur Durchsetzung der erwünschten Ziele.
Die Pläne für ein zu schaffendes ‚Großdeutschland‘ wichen unter dem Vorsitz von Heinrich Claß gemäßigteren Absichten einer engen Zusammenarbeit Deutschlands mit Österreich-Ungarn, wobei die Stellung der Deutschen innerhalb der Donaumonarchie deutlich aufgewertet werden sollte. Nicht alle Verbandsmitglieder folgten Claß auf diesem Weg, und dieser innere Zwist schwächte den AV beträchtlich. Durch das Ende des Ersten Weltkriegs verloren die Träume eines deutsch dominierten ‚Mitteleuropa‘ zunächst an Bedeutung, galt es doch zuvorderst, die verhasste Republik zu bekämpfen. Große außenpolitische Visionen konnte der AV aufgrund seines schwindenden Einflusses nicht mehr vertreten. Seine Forderungen bereiteten jedoch den Weg für die von den Nationalsozialisten vertretene Ideologie vom ‚Lebensraum im Osten‘.
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Edgar Hartwig: Alldeutscher Verband (ADV) 1891 bis 1939. In: Dieter Fricke, Werner Fritsch (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte: Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Bd. 1. Leipzig 1983, S. 13–47.
- Rainer Hering: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939. Hamburg 2003 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 40).
- Björn Hofmeister: Radikaler Nationalismus und politische Öffentlichkeit. Der Alldeutsche Verband und die Alldeutschen Blätter. In: Michel Grunewald, Uwe Puschner (Hg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im Wilhelminischen Deutschland. Bern 2010 (Convergences 55), S. 263–279.
- Michael Peters: Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland. 2., korrig. Aufl. Frankfurt/M. 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 501).
- Geert Naber: Brückenbauer zwischen kolonialer und völkischer Ideologie – Der „Alldeutsche Verband“ 1891 bis 1939. In: freiburg-postkolonial.de, Februar 2010, erweitert März 2011. URL: www.freiburg-postkolonial.de/pdf/2010-Naber-Alldeutscher-Verband.pdf.
Anmerkungen
[1] Hering: Konstruierte Nation, S. 128.
[2] Alldeutsche Blätter, 3. August 1914. Zitiert nach Hering: Konstruierte Nation, S. 133.
[3] Naber: Brückenbauer, S. 3.
[4] Hering: Konstruierte Nation, S. 168.
[5] Hauptleitung des Alldeutschen Verbandes (Hg.): 20 Jahre alldeutsche Arbeit und Kämpfe. Leipzig 1910, S. 1.
[6] Hauptleitung: 20 Jahre (Anm. 5), S. 59.
[7] Zitiert nach Hartwig: Alldeutscher Verband, S. 19.
[8] Günter Schödl: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn 1890–1914. Zur Geschichte des deutschen ‚extremen Nationalismus‘. Frankfurt/M. u. a. 1978 (Erlanger historische Studien 3), S. 191.
Zitation
Berit Pleitner: Alldeutscher Verband. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32854 (Stand 21.06.2021).
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