Europäischer Nationalitätenkongress

1. Kurzbeschreibung

Der „Kongress der Organisierten Nationalen Gruppen in den Staaten Europas“, gängig als „Europäischer Nationalitätenkongress“ bezeichnet, war eine Nichtregierungsorganisation zur Vertretung der Interessen von nationalen Minderheiten. Er trat 1925 erstmalig zusammen. Ab dann tagte der Kongress jährlich, zuletzt 1938. Die Tagungsorte und -jahre waren Genf 1925–1931, 1935, 1936, Wien 1932, 1933, Bern 1934, London 1937 und Stockholm 1938. Während dieser Zeit nahmen insgesamt mindestens 219 Delegierte aus über dreißig europäischen Ländern an den Plenumssitzungen teil, darunter lediglich vier Frauen; 97 Personen waren Abgeordnete ihrer Landesparlamente gewesen. Die hauptsächlich entsendenden nationalen Gruppen waren: Deutsche (74), Juden (25), Ukrainer und Katalanen (je 17), Ungarn (16), Russen (13) und Polen (11). Das Sekretariat des Kongresses befand sich von 1925 bis 1936 in Wien und anschließend bis 1939/44 in Berlin.[1]

Die Entsendung der Delegierten der Vollversammlungen erfolgte durch die Minderheitengruppen. Eine einheitliche Geschäftsordnung dafür ist nicht bekannt, offensichtlich war weder die Zahl der Delegierten pro Gruppe noch der Nominierungsmodus festgelegt.

Der Kongress kooperierte insbesondere mit den Organisationen der nationalen Minderheiten in Ostmittel- und Osteuropa sowie in Spanien. Ab 1927/28 dominierten dabei die deutschen ‚Volksgruppen’, welche durch den „Verband der deutschen Volksgruppen in Europa“ sowie dessen Rechtsberater Carl Georg Bruns (1890–1931) vertreten wurden. Nach dessen Tode übernahm der deutsch-baltische Politiker Werner Hasselblatt (1890–1958) diese Aufgabe. Enge Kooperationen gab es spätestens seit 1928 mit den reichsdeutschen „Verbänden für das Grenz- und Auslanddeutschtum“, u. a. dem „Deutschen Schutzbund“ und dem „Deutschen Auslandsinstitut“. Internationale Kooperationspartner wie die „International Law Association“, die „Völkerbundligenunion“, die „Interparlamentarische Union“ sowie Politiker der Friedensbewegungen wie Lord Willoughby Dickinson (1859–1943) und Christina C. Bakker-van Bosse (1884–1963) sollten das Ansehen und die Wirkung des Kongresses als Einrichtung zur Sicherung des Friedens steigern.

Eine fortlaufende Finanzierung seit der Gründung 1925 erfolgte über das Auswärtige Amt in Berlin und ergänzend insbesondere durch das ungarische Außenministerium (bis 1933). Die Mitgliedsbeiträge der nationalen Gruppen machten nur einen geringen Teil des Budgets aus; vielfach wurden diese auch über verdeckte Subventionen (z. B. für die Ukrainer) oder die Übernahme ausfallender Beiträge durch den „Verband der deutschen Volksgruppen in Europa“ mit Mitteln des Auswärtigen Amtes gedeckt (z. B. für die Juden im Zeitraum von ca. 1927–1931).

2. Aufgaben

Ziel des Kongresses war es, den nationalen Minderheiten als einer Art ‚Gegen-Völkerbund’ eine politische Stimme zu verleihen und damit zur Anerkennung nationaler Minderheiten als völkerrechtlicher Subjekte beizutragen. Der Kongress trug damit wesentlich zur Internationalisierung der Minderheitenfrage bei. Er setzte dabei vorwiegend die Kulturautonomie, den Minderheitenschutz und die Lage der Minderheiten auf die Agenda.

3. Organisation

Den jährlich tagenden Kongress bereitete 1925 eine „Einlader-Konferenz“, sodann ein Exekutivausschuss (auch „Ausschuss“ oder „Exekutivkomitee“) vor. Dieser beriet das Präsidium, das aus dem 1925–1938 amtierenden Präsidenten Josip Vilfan (1878–1958) sowie aus mehreren wechselnden Vizepräsidenten bestand. Die organisatorische Arbeit wurde von einem hauptamtlichen Generalsekretär geleitet, der einem Sekretariat vorstand und zugleich selbst Delegierter seiner nationalen Gruppe im Kongress war. Als Generalsekretäre amtierten: 1925–1936 der deutschbaltische Politiker und Verleger Ewald Ammende (1893–1936); 1936–1939 der deutschbaltische Journalist Ferdinand von Uexküll-Güldenband (1890–1939); 1939–ca.1944/45 Werner Hasselblatt.

Dem Sekretariat angeschlossen war ein „Verband europäischer Minderheitsjournalisten“. Der Vollversammlung des Kongresses angegliedert waren eine Organisationskommission, ein Finanzausschuss, eine Spezialkommission für Nationalitätenkunde (zur Vorbereitung eines letztlich nicht realisierten Institutes für Nationalitätenkunde) sowie ab 1934 ein sog. Fachgremium. Daneben bestanden – mit ungeklärter Struktur und Zusammensetzung – eine „Kommission für Völkerbund und Verallgemeinerung des Minderheitenrechts“, eine „Kommission für innen- und zwischenstaatliche Zusammenarbeit nationaler Minderheiten“ und eine 1932 gegründete permanente „Kommission für Fragen auf dem Gebiet des Petitionswesens“.

Neben den Delegierten stützten weitere Gruppen und Einzelpersonen den Kongress und seine Arbeit durch öffentliche Loyalitätsbekundungen, um dessen vermeintliche Legitimität als politische Vertretung der Minderheiten zu unterstreichen. Damit sollte eine einheitliche europäische Minderheitenlobby dokumentiert werden. Nachweisbar beschloss der Kongress zwischen 1925 und 1938 63 Resolutionen, vor allem zu den Themen ‚Völkerbund’, ‚internationale Kooperation von Minderheiten’, ‚Volksgemeinschaften’, ‚Kulturautonomie’ und ‚Minderheitenrecht’. Diese Resolutionen wurden veröffentlicht und propagierten die Zielvorstellungen der Organisation  zur politischen Vertretung der nationalen Minderheiten in Europa. Die Erstellung der Resolutionen wurde durch insgesamt 308 Referate von Wissenschaftlern, Politikern bzw. Minderheitenvertretern erarbeitet und vor der Beschlussfassung diskutiert. Die Vorbereitung der Verabschiedung erfolgte in dem von deutscher Seite dominierten Exekutivausschuss im Zusammenwirken mit dem Präsidium und dem Generalsekretär. Änderungen durch die Vollversammlungen sind nicht nachweisbar.

4. Geschichte

Die Gründung des Kongresses erfolgte auf Initiative Ewald Ammendes. Vorbereitet wurde sie durch den „Verband der deutschen Volksgruppen in Europa“ ab Herbst 1924. Die einzuladenden Gruppen wurden als ‚Volksgruppen’ im Sinne einer politisch bewussten Vertretung der Minderheiten definiert; da der Volksgruppen-Begriff aber aus politisch-ideologischen Gründen den deutschen Minderheitengruppen vorbehalten wurde, wählte man die Bezeichnung „organisierte nationale Gruppen“.

Die organisierten Minderheiten sahen sich selbst – darin übereinstimmend mit Teilen der europäischen Friedensbewegung – als möglichen Casus Belli. Es war die Politik der konnationalen Staaten, insbesondere des Deutschen Reiches und Ungarns, die eigenen Minderheiten im Ausland als Teile des jeweiligen Gesamtvolkes zu behandeln und sie in der Revisionspolitik gegen die Pariser Vorortverträge zu instrumentalisieren. Im Gegensatz dazu betrachteten die Staaten Ostmitteleuropas im Rahmen ihrer sich zum Teil bis 1935 radikalisierenden Nationalstaatsideologien die nicht den Titularnationen angehörenden nationalen, kulturellen, sprachlichen und ethnischen Minderheiten als politisch unzuverlässig, mögliche fünfte Kolonne ihrer jeweiligen konnationalen Staaten und damit als potentiell staatsgefährdend. Daran konnte auch das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes, das im Gefolge der Pariser Vorortverträge verhandelt worden war und den Minderheiten Petitionsrechte in Genf zusprach, nichts Grundsätzliches ändern. Der Nationalitätenkongress verhielt sich von Beginn an ablehnend gegenüber dem Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes, gegen das er ab 1929 zunehmend verschärft agitierte.

1927 traten alle im Deutschen Reich lebenden nationalen Minderheiten (Sorben, Polen, Dänen, Litauer) aus dem Kongress aus, weil die deutschen und ungarischen Minderheiten im Kongress verhindert hatten, dass die Friesen als nationale Minderheit anerkannt und aufgenommen wurden. Der Kongress verlor dadurch die Möglichkeit, konstruktiv auf die nicht kodifizierte Minderheitenpolitik im Deutschen Reich einzuwirken: Deutschland hatte weder einen Minderheitenschutzvertrag unterzeichnen müssen noch gab es ein Reichsminderheitengesetz, trotz entsprechender Bestrebungen der dortigen nationalen Minderheiten, liberaler Politiker und Verbände sowie eines Teils der deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa. Zugleich wurde der Kongress durch diese Spaltung vollends zum Mittel reichsdeutscher Außenpolitik gegenüber Polen und der Tschechoslowakei.

Ab 1933 wurde der Kongress unter dem Einfluss der deutschen Minderheiten auf die politische Linie des nationalsozialistischen Deutschland gebracht. So wurde z. B. die Frage der Diskriminierung und Verfolgung von Juden im Deutschen Reich im Kongress nicht behandelt, woraufhin die jüdisch-zionistischen Gruppen die Organisation verließen. Mit dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund Ende 1933 stieg die Bedeutung des Kongresses im Kampf gegen die Vereinigung aller kommunistischen Parteien (Komintern, 1919–1943), den Bolschewismus als Ideologie und die Sowjetunion als Staat an. Der Kongress verabschiedete 1933 und 1934 auf Betreiben Ewald Ammendes und Werner Haselblatts scharfe antisowjetische Resolutionen im Hinblick auf die politisch herbeigeführten Hungersnöte in der UdSSR. Ammende knüpfte damit an sein antisowjetisches Engagement in den 1920er Jahren an, als er den Hunger als Instrument sowjetischer Politik gegen die Ukrainer angeprangert hatte.

Ab 1936 geriet der Kongress zunehmend unter den Einfluss nationalsozialistischer Kräfte unter seinen Delegierten, insbesondere der „Sudetendeutschen Partei“. Das Generalsekretariat unter Werner Hasselblatt und die dem Kongress nahestehende Redaktion der Zeitschrift „Nation und Staat“ engagierten sich stark in diese Richtung. Bürgerlich-liberale Demokraten und Konservative innerhalb der deutschen Nationalitätenbewegung wie Paul Schiemann (1876–1944), Wilhelm von Medinger (1878–1934) und Eduard Pant (1887–1938) wurden entmachtet oder diskreditiert.

Die Zeitschrift „Nation und Staat“, die 1927–1944 durch den „Verband der deutschen Volksgruppen in Europa“ herausgegeben wurde, war kein offizielles Organ des Nationalitätenkongresses. Die Herausgeber dieses Periodikums befürworteten jedoch die aus dem Deutschen Reich gesteuerte politische Funktion des Kongresses. Die 1949 gegründete „Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen“ war zwar gemäß ihrer Selbstdefinition Nachfolgerin des Europäischen Nationalitätenkongresses, stand aber weder rechtlich noch politisch in dessen Tradition.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

Die Akten des Sekretariates und aller weiteren Untergliederungen des Kongresses sowie die Redaktionsakten der Veröffentlichungen des Kongresses sind seit 1944/45 verschollen. Die vom Kongress herausgegebenen „Mitteilungen der Geschäftsführung“ (1928–1930), die „Pressewochenschau zur Nationalitätenfrage“ (1930–1932; 1933: „Europäische Nationalitätenkorrespondenz“) sowie die Sitzungsberichte des Kongresses der organisierten Gruppen in den Staaten Europas [1925–1938]. Wien/Leipzig 1926–1938 sind neben einer Reihe von (Teil-) Nachlässen verstreut vorhanden.

  • Ewald Ammende (Hg.): Die Nationalitäten in den Staaten Europas. Sammlung von Lagerberichten. Wien/Leipzig 1931.
  • Ewald Ammende (Hg.): Die Nationalitäten in den Staaten Europas. Sammlung von Lagerberichten. Ergänzungen. Wien 1932.
  • Rudolf Michaelsen: Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925–1928. Aufbau, Krise und Konsolidierung. Frankfurt/Main u.a. 1984 (Europäische Hochschulschriften III/194).
  • Sabine Bamberger-Stemmann: Der Europäische Nationalitätenkongress 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen. Marburg 2000 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 7).
  • Xosé Manuel Núñez Seixas: Entre Ginebra y Berlin. La cuestión de las minorías nacionales y la política internacional en Europa (1914–1939). Madrid 2001 (Akal universitaria 216).
  • John Hiden: Defender of Minorities. Paul Schiemann 1876–1944. London 2004.
  • Martyn Housden: The League of Nations and the Organisation of Peace. London 2012.
  • Ders.: On Their Own Behalf: Ewald Ammende, Europe’s National Minorities and the Campaign for Cultural Autonomy 1920–1936. London 2014 (On the Boundary of Two Worlds 37).

Anmerkung

[1] Für diese und weitere Zahlen vgl. Bamberger-Stemmann: Der Europäische Nationalitätenkongress.

Zitation

Sabine Bamberger-Stemmann: Europäischer Nationalitätenkongress. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2019. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32825 (Stand 14.07.2020).

Nutzungsbedingungen für diesen Artikel

Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie: ome-lexikon@uol.de

Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.

OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page