Vierzehn-Punkte-Programm von Woodrow Wilson
1. Kurzbeschreibung
Am 8. Januar 1918 verlas der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses sein Vierzehn-Punkte-Programm, in dem er nicht weniger als eine neue politische Weltordnung umriss. Tatsächlich flossen viele der hier formulierten Ideen später in die verschiedenen Friedensverträge der Pariser Friedenskonferenz ein. Die Punkte zur territorialen Neuordnung implizierten das endgültige Ende des Systems des Gleichgewichts der großen Mächte in Europa: Belgien, Montenegro, Rumänien, Russland und Serbien sollten geräumt und wiederhergestellt, Elsaß-Lothringen an das befreite Frankreich zurückgegeben und die italienische Grenze nach dem Nationalitätenprinzip „berichtigt“ werden. Polen sollte als Staat wiedererstehen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker des Habsburgerreiches und des Osmanischen Reiches durchgesetzt werden.
2. Historischer Abriss
Kontext
Nach Ausbruch der Oktoberrevolution in Russland am 7. November 1917 brauchten die Bolschewiki Handlungsspielraum für ihre innenpolitischen Ziele und traten daher mit den Mittelmächten in Waffenstillstandsverhandlungen. Leo Trotzki (Trockij, 1879–1940) hoffte, durch eine langfristig angelegte Verhandlungstaktik Zeit zu gewinnen, um bolschewistische Propaganda und schlussendlich die Revolution nach Deutschland zu tragen. Die Friedensverhandlungen zogen sich nach dem am 15. Dezember 1917 vereinbarten Waffenstillstand hin und boten der Obersten Heeresleitung Deutschlands ihrerseits die Möglichkeit, tiefer in russisches Staatsgebiet einzudringen und das von ihr bereits begonnene ‚Ostimperium‘ weiter auszubauen.
Vor diesem Hintergrund sah Wilson die Notwendigkeit, kurzfristig gegen die Mittelmächte vorzugehen, langfristig jedoch eine Alternative zu den politischen Ideen des neu entstehenden Sowjetrusslands zu formulieren. Die in dem Vierzehn-Punkte-Programm niedergelegte Neuordnung fußte auf den Ideen von Demokratisierung einerseits und der Gleichheit der Nationen andererseits. Letztere sollte nach Wilsons Vorstellungen in dem zu gründenden Völkerbund, einer „Gesellschaft der Nationen“, ihren Garanten finden.
Polnischer Staat
Punkt 13 des Vierzehn-Punkte-Programms sah die Errichtung eines unabhängigen polnischen Staates mit freiem Zugang zum Meer vor, dessen territoriale Ausdehnung durch die „unbestritten von polnischen Bevölkerungen bewohnten Gebiete“ bestimmt werden sollte. Ein solchermaßen definierter Staat umfasste lediglich Kongresspolen und Westgalizien, womit sich mit Hinblick auf die historische Entwicklung Polens kaum ein polnischer Politiker zufriedengeben mochte. Das Ringen um die Grenzverläufe führte ab dem Herbst 1918 zu Auseinandersetzungen oder gar zum Krieg mit fast allen Nachbarstaaten: mit den Tschechen und Slowaken im Süden, den Deutschen im Westen sowie den Litauern, Russen, Weißrussen und Ukrainern im Osten.
Der Vorsitzende des polnischen Nationalkomitees Roman Dmowski (1864–1939) vertrat bei den Friedensverhandlungen in Paris seine Vorstellungen von einem „piastischen Staat“, der neben Kongresspolen und Westgalizien das historische Großpolen mit Posen/Poznań umfassen und im Osten etwa bis zur Grenze von 1772 reichen sollte. Im Versailler Vertrag erhielt Polen das Großherzogtum Posen (bis auf Randgebiete) und den größten Teil Westpreußens. Danzig/Gdańsk wurde als Freie Stadt unter Aufsicht des Völkerbundes gestellt. Nach Volksabstimmungen im Jahr 1920 verblieb das Ermland bei Deutschland, 1921 wurde Oberschlesien geteilt. Während der Verlauf der Westgrenze letztlich durch die Siegermächte bestimmt wurde, führte Polen, angeführt von Józef Piłsudski (1867–1935), im Osten Krieg um die Gebiete der kresy (historische Ostgebiete des jagiellonischen Polens). Ob als polnisches Staatsgebiet oder in Form einer osteuropäischen Konföderation – der polnische Einfluss sollte wieder bis zu den Grenzen von 1772 geltend gemacht werden. Mit dem Frieden von Riga vom 18. März 1921 verschob sich die polnische Grenze weit in den Osten.
Polen hatte sich in wenigen Jahren von der im Vierzehn-Punkte-Programm formulierten Idee des ethnisch geschlossenen Staatsgebietes zu einem äußerst heterogen bevölkerten Staat entwickelt: Neben der deutschen Minderheit im Westen gab es zahlenmäßig starke jüdische, lettische, litauische, ukrainische und weißrussische Minderheiten.
Selbstbestimmungsrecht der Völker
Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wird in Punkt 10 des Vierzehn-Punkte-Programms behandelt. Hier heißt es, den Völkern Österreich-Ungarns solle die „freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung“ gewährt werden. Das ist weniger weitreichend formuliert als der Begriff „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, der – häufig im Zusammenhang mit Forderungen nach Eigenstaatlichkeit – verwandt wurde. Die Rede vom 8. Januar 1918 sandte jedoch noch kein eindeutiges Signal an die Habsburger, dass das Ende ihres Vielvölkerreiches gekommen war. Autonomie für die hier lebenden Völker war auch innerhalb des Rahmens der Habsburgermonarchie denkbar. Im Laufe der Zeit änderte Wilson jedoch sein Vokabular und seine politische Stoßrichtung. Das hing eng mit den Ereignissen des letzten Kriegsjahres und den Positionen der jeweiligen Alliierten, Partner und Gegner zusammen.
Paradoxerweise bot der Kriegsgegner Deutschland den USA hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechtes der Völker einige Anknüpfungspunkte: Es waren die Deutschen, die im Frieden von Brest-Litowsk (3. März 1918) von Russland die Unabhängigkeit Polens, Finnlands, Estlands, Livlands und der Ukraine forderten. Allerdings sahen sich die Deutschen Anfang 1918 weiterhin in der Position einer Großmacht, die den Krieg für sich entscheiden konnte, und waren nicht bereit, ernsthaft mit Wilson über dessen Ideen zu verhandeln. Umgekehrt konnte Wilson kein Europa dulden, in denen Staaten zwar de jure selbstständig, de facto aber von Deutschland abhängig wären.
Auch die Bolschewiki proklamierten ‚das Recht der Völker auf nationale Selbstbestimmung‘, doch war dies eher ein taktischer Schachzug und bedeutete kaum mehr als einen Zwischenschritt auf dem Weg zur staatenlosen Gesellschaft. Die Engländer und Franzosen ihrerseits hatten für die nach Unabhängigkeit strebenden Völker an Glaubwürdigkeit eingebüßt, als Russland Ende 1917 Geheimdokumente veröffentlichte, in denen die macht- und wirtschaftspolitischen Ziele der Entente auf den Gebieten des Osmanischen und des Habsburgerreiches klar zutage traten.
Vor diesem Hintergrund erschienen die USA mit dem Vierzehn-Punkte-Programm den europäischen Völkern, die bis dahin in den Grenzen des Russischen, Deutschen, österreich-ungarischen oder Osmanischen Reiches gelebt hatten, als einzig vertrauenswürdige Schutzmacht. Wilson konnte auf ihre Unterstützung bei der Implementierung seiner Vision bauen – musste dazu jedoch seinerseits weitreichende Zusagen machen, die die Zerschlagung jener Reiche zur Folge hatten.
Gründung der Tschechoslowakischen Republik
Tatsächlich sahen die Vierzehn Punkte – anders als für Polen – für die Tschechen und Slowaken keine explizit formulierte Eigenstaatlichkeit, sondern Autonomie innerhalb des Habsburgerreiches vor (Punkt 10). Unter der Führung von Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), Edvard Beneš (1884–1948) und Milan Rastislav Štefáník (1880–1919) hatte sich im politischen Exil in Westeuropa im Verlauf des Kriegs jedoch die Idee eines eigenständigen tschechoslowakischen Staates entwickelt, dessen Gründung das comité d’action tchèque à l‘étranger am 14. November 1915 zum politischen Ziel erklärte. Auch wenn die „liberation of Czecho-Slovaks“ bald zum eingängigen internationalen Slogan wurde, dauerte es noch bis Mitte 1918, bis Frankreich, Großbritannien und die USA offiziell einwilligten. Mit dieser Rückendeckung und vor dem Hintergrund des in den letzten Kriegsmonaten im Habsburgerreich entstandenen Machtvakuums kam der tschechoslowakische Nationalrat dem Waffenstillstand zuvor und proklamierte am 28. Oktober 1918 in Prag/Praha die Tschechoslowakische Republik.
Die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei
Aus der Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker ergab sich nicht zwangsläufig eine ethnisch-nationalstaatliche Ordnung Europas. Insbesondere in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas lebten diverse Minderheiten, für die jedoch auf Grundlage der Friedensverträge Minderheitenschutzregelungen formuliert worden waren. Die Deutschen in den Böhmischen Ländern stellten (nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1910) mit etwa drei Millionen Einwohnern gegenüber etwa neun Millionen Tschechen und Slowaken eine starke Minderheit, die hauptsächlich in den Gebieten entlang der Grenzen der Tschechoslowakischen Republik siedelte. Da die Tschechoslowakei – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen – auf diese Territorien nicht verzichtete, die Mittelmächte ihrerseits aber zu geschwächt waren, um für die Anliegen der Deutschböhmen einzutreten, wurden Letztere mit Verweis auf das Wilson’sche Programm selbst aktiv. Am 29. Oktober 1918, einen Tag nach der Proklamation des tschechoslowakischen Staates, riefen sie als Reaktion darauf und „auf Grund des allgemein anerkannten Selbstbestimmungsrechtes der Völker“[1] die Provinz Deutschböhmen aus und erklärten sie zu einem Teil Deutschösterreichs. In einem an Wilson gerichteten Memorandum forderten sie von den Friedensverhandlungen „Gerechtigkeit“, denn es könne „keines rechtlich denkenden Menschen Wille sein, die Deutschen Böhmens von ihrem Volke zu reißen und einem fremden Volke zu unterwerfen“.[2] Als Kriegsverlierer konnte Österreich-Ungarn, dem die deutschböhmische Delegation zugeordnet war, jedoch auf den Friedensverhandlungen keine eigenen Ansprüche äußern. Im Vertrag von St. Germain wurde der Verbleib der deutsch besiedelten Gebiete beim tschechoslowakischen Staat bestätigt.
3. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Manfred Alexander: Quellen zu den deutsch-tschechischen Beziehungen 1848 bis heute. Darmstadt 2005 (Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert 12).
- Joachim Bahlcke: Geschichte Tschechiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2014 (Beck'sche Reihe 2797), S. 87–91.
- Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010 (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert).
- Patrick O. Cohrs: „American Peace“ – ein „demokratischer Frieden“? Wilson und die Suche nach einer neuen Weltordnung nach dem Ersten Weltkrieg. In: Jost Dülffer, Gottfried Niedhart (Hg.): Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters. Essen 2011 (Beiträge zur Historischen Friedensforschung 15), S. 73–103.
- Jost Dülffer: Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. In: Jörg Fisch (Hg.): Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. München 2011 (Schriften des Historischen Kollegs 79), S. 113–139.
- Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010, S. 126–129.
- Herfried Münkler: Der große Krieg. Die Welt 1914–1918. Berlin 2013, S. 653–674.
Weblinks
- avalon.law.yale.edu/20th_century/wilson14.asp (Abschrift der Kongressrede; im Projekt Avalon der Yale Law School)
- www.loc.gov/resource/mss46029.mss46029-480_0018_0618/?sp=344 (Kurzschriftfassung von Präsident Woodrow Wilson; in der Manuscript Division der Library of Congress)
Anmerkungen
[1] Ausrufung des Staates ‚Deutschböhmen‘ durch die deutschen Abgeordneten Böhmens am 29. Oktober 1918, in: Alexander (Hg.): Quellen, S. 116.
[2] Patrick Gschwend: Deutschböhmischer Appell an Präsident Wilson im Januar 1919. In: Radio Praha ‚Anno dazumal‘, Sendung vom 12.01.2010. URL: www.radio.cz/de/rubrik/anno-dazumal/deutschboehmischer-appell-an-us-praesident-wilson-im-januar-1919 (Abruf 29.10.2021).
Zitation
Berit Pleitner: Das Vierzehn-Punkte-Programm von Woodrow Wilson. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32699 (Stand 29.10.2021).
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