Litauen

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Litauen

Amtliche Bezeichnung

lit. Lietuva

Lateinische Bezeichnung

Litua

2. Geographie

Lage

Litauen grenzt im Nordwesten an die Ostsee (90 km Küstenlinie), im Norden an Lettland, im Osten und Südosten an Weißrussland, im Süden an Polen und im Südwesten an die Russische Föderation (Exklave Kaliningrad, früher Königsberg).

Topographie

Litauen ist ein flaches Land. Es wird im westlichen Teil von dem baltischen Landrücken durchzogen (Niederlitauen), das hügelige Hochlitauen im Osten (größte Erhebung 294 m) gehört zum weißrussischen Landrücken. Die größten Flüsse sind die Memel (Nemunas) und ihr Nebenfluss Neris, daneben gibt es viele Seen, v. a. in Hochlitauen. Die Region ist bis heute durch große Waldbestände, die mehr als 30 Prozent der Landesfläche einnehmen, und durch umfangreiche landwirtschaftlich bewirtschaftete Flächen geprägt.

Historische Geographie

Die Grenzen des mittelalterlichen Großfürstentums Litauen besaßen für die 1918/19 entstandene litauische Republik keine Vorbildfunktion mehr. Der Verlust der historischen Hauptstadt Wilna/Vilnius an Polen bedeutete jedoch eine große Hypothek für die junge Republik. Grenzverschiebungen zugunsten des litauischen Staates gab es 1924, als das Memelgebiet der litauischen Souveränität unterstellt wurde, und im Oktober 1939, als die Sowjetunion das Vilniusgebiet infolge der Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes an Litauen übergab. Abgesehen von einer kleinen Grenzarrondierung im Vilniusgebiet nach der sowjetischen Okkupation im Juni 1940 entsprechen diese Grenzen dem heutigen Staatsgebiet. Litauen war noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein agrarisch geprägtes Land, erst in den 1960er und 1970er Jahren kam es zu einer deutlichen Urbanisierung; heute lebt zwei Drittel der Bevölkerung in urbanem Gebiet.

3. Geschichte und Kultur

Die Geschichte des Landes lässt sich in vier große Perioden gliedern: das Großfürstentum, die mit der Personalunion 1385/86 beginnende polnische Phase, die Zugehörigkeit zum Russischen Reich und schließlich die wechselvolle Geschichte des litauischen Staates der Neuzeit im 20. und 21. Jahrhundert.

Das Großfürstentum

Den baltischen Völkern zugehörig, waren auch die litauischen Stämme Ackerbauern und Viehzüchter, deren Siedlungen sich oft an Burgbergen orientierten. Über die Burgherren dürfte sich dann auch die erste räumliche Machtausdehnung entwickelt haben, wobei dabei durchaus an gewaltsame Expansion und Eroberung zu denken ist. Jedenfalls tauchten in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts Namen von litauischen Fürstenfamilien auf, deren bedeutendster zweifellos Mindaugas war, der um 1250 als Herrscher über Litauen bezeichnet wurde. 1253 ließ sich der Großfürst zum König krönen und taufen, denn er sah im Bündnis mit dem livländischen Orden und der Kurie einen wichtigen Schritt gegen seine innerlitauischen Gegner und Widersacher. Bereits 1261 löste sich Mindaugas jedoch wieder vom Orden. Seine Ermordung 1263 markiert zwar das Ende des christlichen Königtums, nicht aber den Untergang der litauischen Herrschaftsbildung. Da mit dem Deutschen Orden ein mächtiger Gegner den Weg an die Ostsee versperrte, zielte die litauische Expansion nach Osten. Insbesondere Großfürst Gediminas sorgte für die Ausdehnung des Reiches, wobei er sowohl militärische (Eroberung Kiews 1320) als auch diplomatische Erfolge (Heiratspolitik) erzielte und das Herrscherhaus der Gediminiden begründete. Die Bevölkerung des Großfürstentums bestand zu großen Teilen aus Ostslawen, die gut 90 Prozent des Staatsgebietes bewohnten.

Die Verbindung mit Polen

Eine eigentlich bis ins 20. Jahrhundert andauernde Wirkung hatte die dynastische Verbindung des litauischen Herrscherhauses mit Polen. Die internen Streitigkeiten zwischen den Vettern Vytautas und Jogaila fanden im Vertrag von Krevo 1385 ein Ende. Durch die Heirat mit Jedwiga (Hedwig von Anjou) wurde Jogaila als Władysław II. Jagiełło zum König Polens, während Vytautas als Großfürst über Litauen herrschte. Zwei Bedingungen der Union von Krevo seien erwähnt: die Annahme des christlichen Glaubens durch die Gediminiden (und ihre nichtslawischen Untertanen) und die Verpflichtung, die Ländereien des Großfürstentums an die polnische Krone anzugliedern. Trotz des Gefolgschaftseides gegenüber dem König von Polen gelang Vytautas eine energische eigenständige Politik. Insbesondere in den russischen Gebieten des Großfürstentums entmachtete er lokale Herrscher und setzte die eigene Prärogative durch. In dieser Phase kam es am 15. Juli 1410 zur von späteren Generationen unter nationalen Vorzeichen stilisierten Schlacht von Tannenberg/Žalgiris, bei der das polnisch-litauische Heer dem Deutschen Orden eine katastrophale Niederlage zufügte. Schließlich wurde 1422 im Frieden vom Melnosee eine Grenze zwischen Litauen und dem Ordensland Preußen festgelegt, die bis 1918 Bestand haben sollte.

Bild

Le royaume de Pologne comprenant les etats de
Pologne et de Lithuanie (...) (1697) [Karte: Uni-
versitätsbibliothek Bern, Sig.: ZB Ryh 6001: 25].

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erodierte die Macht des Großfürstentums im Osten, und der Einfluss des Fürstentums Moskau nahm stetig zu. Schließlich begannen Jahrzehnte militärischer Auseinandersetzungen und Scharmützel, die immer deutlicher in einen litauischen Rückzug nach Westen mündeten. Je schwieriger die Situation an der Ostgrenze wurde, desto stärker wurde die Bindung und Anlehnung an Polen. Nachdem der Moskauer Vormarsch immer bedrohlicher geworden war, setzten sich in der Union von Lublin 1569 endgültig polnische Bestrebungen durch, die eine faktische Vereinigung Litauens mit Polen anstrebten. Der König von Polen wurde in Personalunion Großfürst von Litauen, es gab eine gemeinsame Außenpolitik und eine Währung für den Gesamtstaat. Die Zielsetzung wurde im Vertrag deutlich benannt, es ging um "ein einziges und unteilbares Ganzes, eine einheitliche und untrennbare Republik, welche aus zwei Staaten und Völkern zu einer Nation zusammengefügt und vereinigt ist".[1] Demgegenüber wogen letzte Reservate bei den Rechtskodizes, der Verwaltung und beim Heer wenig.

So setzte sich in den kommenden Jahrzehnten immer stärker eine polnisch orientierte und akkulturierte Oberschicht durch, während die litauische Sprache mehr oder weniger nur in der ländlichen Bevölkerung verbreitet war.

Die Reformation in Litauen wurde zwar nach wenigen Jahren durch die katholische Gegenreformation (Gründung eines Jesuitenkollegs in Wilna 1569) zurückgedrängt, doch hinterließ sie wichtige Spuren: das erste litauischsprachige Buch, das 1547 in Königsberg gedruckt wurde, war der lutherische Katechismus.

Litauen als Teil des Zarenreiches

Das Ende des polnisch-litauischen Staates erfolgte durch die Teilungsverträge zwischen Russland, Preußen und Österreich im Jahre 1795, damit ging eine Jahrhunderte währende gemeinsame Geschichte zu Ende. Sieht man einmal vom Suvalkija-Gebiet ab, das erst durch den Wiener Kongress dem Zarenreich zugeschlagen wurde und zuvor für kurze Zeit zu Preußen gehört hatte, stand das gesamte litauischsprachige Territorium seit der letzte Teilung Polens unter der Herrschaft des zarischen Russland. So einschneidend der Verlust der Staatlichkeit auch in politischer Hinsicht sein mochte, blieb doch in sozialer Hinsicht die alte Struktur noch bis weit ins 19. Jahrhundert erhalten: Weiterhin standen adelige polnischsprachige Grundbesitzer und einige Magnaten an der Spitze der Gesellschaft, während die litauische Sprache vor allem bei der einfachen Landbevölkerung verbreitet war.

Erst allmählich entwickelte sich die litauische Nationalbewegung, wobei eine unabdingbare Voraussetzung in den Ideen der Aufklärung zu sehen ist, die das Fundament für eine neue Sicht auf die Volkskunst und die Sprache der bäuerlichen Bevölkerung bereiteten. Aufklärerisches Gedankengut erreichte über die katholische Geistlichkeit die Landbevölkerung. Die Priester gründeten Volksschulen mit litauischer Unterrichtssprache, auch wenn die polnische Dominanz damit noch keineswegs in Frage gestellt wurde. Ein weiterer wichtiger Impuls kam aus Ostpreußen. Die litauischsprachige Minderheit im Norden der preußischen Provinz, dem König in Berlin und dem Protestantismus treu ergeben, wurde zum Wegbereiter des litauischen Buchdrucks und der litauischen Schriftsprache. Kristijonas Donelaitis (Christian Donalitius), Pfarrer in einem ostpreußischen Dorf, veröffentlichte Ende des 18. Jahrhunderts die Dichtung metai (Jahreszeiten), das erste litauischsprachige Epos, das, wie schon der Titel suggeriert, das schwere und harte Landwirtschaftsjahr zum Thema hatte.

Im 19. Jahrhundert trennten sich auch die polnischen und litauischen Wege; die Aufstände 1830/31 und 1863/64 gegen die Zarenmacht waren die letzten Ereignisse, die Polen und Litauer Seite an Seite sahen.

Die zarische Verwaltung setzte nun auf eine radikale Russifizierung, deren deutlichste Ausprägung in dem Verbot bestand, litauischsprachige Publikationen in lateinischer Schrift zu drucken, stattdessen mussten kyrillische Lettern verwendet werden. Auch wenn die moderne litauische Forschung die russische Politik nicht mehr nur unter dem Aspekt der Russifizierung und der Unterdrückung des Litauer- und Polentums sieht,[2] bleibt festzuhalten, dass die zarische Macht in zunehmendem Maße als Fremdherrschaft empfunden wurde. Je mehr die Gouverneure des Zaren eine Entnationalisierung der litauischen Minderheit zu erreichen versuchten, desto mehr wurde damit die Entstehung einer nationalen litauischen Bewegung gefördert. Verbunden mit der Entstehung litauischsprachiger Volksschulen, der Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus und der Entdeckung des Litauischen als archaischer und damit besonders hervorgehobener Kultursprache, wurden die Priesterseminare zu Keimzellen der Nationalbewegung, die im weltlichen Bereich durch die ersten (von den Russen gegründeten) Gymnasien ergänzt wurden. Der soziale Wandel brachte litauische Bauernsöhne in Kontakt mit höherer Bildung, und aus diesem Reservoir entstand die Gründergeneration des litauischen Staates. Diese Herkunft schuf auch den unabdingbaren Hintergrund einer Abgrenzung von der polnischen Nationalbewegung: Manche späteren Protagonisten wie der Mentor der litauischen Nation, Jonas Basanavičius, begannen ganz bewusst, sich des Litauischen im Umgang miteinander zu bedienen und nicht mehr Polnisch zu sprechen. Basanavičius wurde Herausgeber der ersten litauischsprachigen Zeitschrift Aušra (Morgenröte), die im ostpreußischen Tilsit/Sovetsk verlegt und über die Grenze geschmuggelt wurde. Auch wenn die Aušra mehr kulturell-ethnologisch als politisch orientiert war, wurde sie zum Symbol einer neuen ethnischen Gruppe, in deren Selbstverständnis ethnologische, folkloristische und philologische Elemente eine bestimmende Rolle spielten. Hieraus entwickelte sich das Bild des litauischen Volkes, das, naturverbunden und dem Landleben verpflichtet, seine kulturelle Eigenständigkeit über die (polnisch geprägten) Jahrhunderte behielt und eine der ältesten Kultursprachen des Indogermanischen spricht. Hinzu kam die historische Hinterlassenschaft des Großfürstentums, die von der ersten Generation der litauischen Nationalbewegung zum nationalen Heldenmythos verklärt wurde.

Damit ist zugleich gesagt, dass die litauische Nationalbewegung zunächst keineswegs ein Massenphänomen war, vielmehr führte der Weg über den ländlichen Raum: "…ländliche Pfarrhäuser, die Wohnungen der Volksschullehrer wurden Zellen einer Bildungsarbeit, die die Jugend mehr und mehr in ihren Bann zog".[3]

Diese Entwicklung musste geradezu zwangsläufig in den Konflikt mit der polnischen Nationalbewegung führen, denn für diese stand mehr oder weniger fest, dass eine Wiederaufnahme der alten Union unter polnischer Dominanz außer Frage stehe. Verständnislos reagierte man auf die litauischen Bestrebungen: Polnisch sei die lingua glotta in den gebildeten Kreisen Litauens, das Land sei ohne die polnische Kultur und den von Polen ausgehenden Katholizismus ein Anachronismus. Die Spaltung zog sich bald auch durch den gesamten Klerus, wobei vor allem die niedere Geistlichkeit, die sich vorwiegend aus litauischen Bauernsöhnen rekrutierte, der neuen Nationalbewegung nicht ablehnend gegenüberstand.

Der Weg der litauischen Nationalbewegung war dabei keineswegs ein geradliniger und radikaler. Zunächst ging es im Kern um die Anerkennung einer kulturellen Autonomie in dem russisch und polnisch geprägten Umfeld. Bald entwickelten sich soziale Fragestellungen und Forderungen, die vor allem die Stellung der litauischen Bauern unter der als drückend empfundenen zarischen Verwaltung betrafen. Die Politisierung Ende des 19. Jahrhunderts gipfelte in der Forderung nach politischer Autonomie, wobei der Gedanke an eine eigene Staatlichkeit als reines Phantasieprodukt angesehen wurde. Die erste russische Revolution im Jahre 1905 änderte die Situation vollständig. Schon im Vorfeld der Ereignisse hatte die russische Regierung das Verbot, in lateinischer Schrift zu drucken, aufgehoben, doch kam diese Maßnahme ebenso zu spät wie die Zulassung der litauischen Unterrichtssprache im Mai 1905, um noch Kredit unter der litauischen Bevölkerung zu gewinnen. Das berühmte Oktobermanifest, das der Bevölkerung Versammlungs- und Vereinsfreiheit zugestand, führte in Wilna zur Einberufung des berühmten Großen Seimas von Wilna.[4] In der angeheizten Atmosphäre des Oktober 1905 entschloss sich die Redaktion der Vilniaus Žinios (Wilnaer Tageszeitung), den Aufruf zu einem Treffen von Litauern zu veröffentlichen (29. Oktober nach julianischem Kalender) und ein Organisationskomitee zu gründen. Die enthusiastische Reaktion auf den Aufruf übertraf alle Erwartungen; im November 1905 versammelten sich schließlich mehr als 1.800 Delegierte in Wilna.

Obwohl in dem Memorandum an die russische Regierung 'nur' von einer Autonomie, einer Selbstverwaltung Litauens die Rede war, wurde in der Diskussion bereits von Unabhängigkeit gesprochen. Auch die Frage nach den Grenzen wurde intensiv erörtert: Das autonome Litauen sollte sich auf die ethnographisch litauischen Gebiete erstrecken, wobei umliegende Territorien aus ökonomischen, kulturellen, ethnischen oder anderen Gründen sich dem Kerngebiet anschließen sollten, wenn die Einwohner dies wünschten. Damit war 1905 das erste Mal von einer Landkarte die Rede, die bei allen späteren historischen Wechselfällen und Änderungen den heutigen litauischen Staatsgrenzen annähernd entsprach. Verbunden mit der Grenzfrage hatte die Konferenz von 1905 auch in einer anderen Hinsicht für Klarheit gesorgt: Das neue Litauen sollte ein ethnisch möglichst homogener Staat sein. Auch in dieser Hinsicht steht die Konferenz für eine grundsätzliche Entscheidung, die für das gesamte 20. Jahrhundert Prägewirkung haben sollte.

Die Fixierung auf ein ethnographisches Litauen beinhaltete zugleich die klare Absage an ein Wiederaufleben des polnisch-litauischen Doppelstaates. Die Genese der litauischen Nation entwickelte sich eher aus einem polnisch-litauischen als aus einem russisch-litauischen Gegensatz. In dieser Hinsicht sind die Ereignisse von 1905 nicht nur als Endpunkt einer gemeinsamen Entwicklung, sondern mehr noch als Ausgangspunkt einer Konfrontation zweier Ethnien unter nationalen Vorzeichen zu interpretieren.

Litauen im 20. und 21. Jahrhundert

Zum Katalysator der sich bereits 1905 abzeichnenden Entwicklungslinien wurde der Erste Weltkrieg. Das seit Sommer/Herbst 1915 vom Deutschen Reich besetzte Land litt unter der deutschen Okkupation und der Ausbeutung durch die deutsche Militärverwaltung. Die Besatzer gestatteten 1917 die Gründung einer litauischen Interessenvertretung, der Taryba (= Rat), die sie als Erfüllungsgehilfin für die eigene Hegemonie über das Land ansahen. Nachdem die Taryba zunächst den deutschen 'Wünschen' entsprechend die Unabhängigkeit des Landes und zugleich eine unauflösliche Anbindung an Deutschland verkündet hatte (Zoll- und Militärunion, permanenter Bündnisvertrag), kam es am 16. Februar 1918 zu einer zweiten Deklaration der Unabhängigkeit, in der davon die Rede war, der künftige litauische Staat müsse auf demokratischen Grundlagen fußen und über seine endgültige staatliche Form könne nur eine frei gewählte Nationalversammlung entscheiden. Nachdem der bolschewistische Vormarsch zum Stehen gebracht und die letzten deutschen Truppen 1919 aus dem Land hinauskomplimentiert worden waren, war der Weg zum ersten litauischen Staatswesen der Neuzeit frei. Die junge litauische Republik litt jedoch an außenpolitischen Hypotheken: in der Auseinandersetzung um Wilna hatten die Polen im Oktober 1920 mit einen fait accompli dem beständigen Hin und Her ein Ende gemacht und das Gebiet dem polnischen Staat einverleibt; in Memel/Klaipėda konnten sich die Litauer zwar im Januar 1923 durch einen angeblichen Aufstand der einheimischen Bevölkerung, der in Wirklichkeit nichts anderes war als eine verdeckte Usurpation durch litauische Gruppierungen, in den Besitz des von der Entente verwalteten Gebietes setzen, doch war das Memelland damit zu einem Objekt des deutschen Revisionismus geworden. Das kurze demokratische Experiment endete 1926 durch den Putsch junger Offiziere, der ein autoritäres Regime unter Antanas Smetona, einem der Gründer des Staates zwischen 1917 und 1919, an die Macht brachte.

Infolge des Hitler-Stalin-Paktes verlor Litauen im Sommer 1940 seine Unabhängigkeit. Bei der Aufteilung Ostmitteleuropas hatte das Land zunächst zur deutschen 'Interessensphäre' gehört, bevor es im Geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages im September 1939 im Austausch für polnische Gebiete der Sowjetunion zugeschlagen wurde. Nachdem die Sowjetunion bereits im Herbst 1939 exterritoriale Basen der Roten Armee in Litauen erpresst hatte, erfolgte während des deutschen Sieges über Frankreich im Juni 1940 die endgültige Okkupation. Unter diesen Umständen war bereits die Freude über die Übergabe des Vilniusgebietes durch die Sowjets an Litauen im Herbst 1939 verhalten. Ein Jahr stalinistischer Herrschaft reichte aus für einen begeisterten Empfang deutscher Truppen im Juni 1941, die in den ersten Tagen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion Litauen überrannten. Die deutsche Herrschaft blieb trotz der mörderischen Auswirkungen - fast alle litauischen Juden wurden ermordet - ein Zwischenspiel, denn mit der Rückeroberung Litauens ab Sommer 1944 begann die zweite, fast 50 Jahre währende sowjetische Herrschaft. Litauen wurde zur "Sowjetischen Sozialistischen Republik" (Litauische SSR). Nach den ersten Jahren, die durch Massendeportationen nach Sibirien und stalinistischen Terror auf der einen, durch bewaffneten Widerstand und Partisanenkämpfe in den Wäldern auf der anderen Seite gekennzeichnet waren, kam es im Zeichen der Entstalinisierung zu Jahrzehnten der Akkommodation. In der litauischen Gesellschaft existierte aber immer ein Gegenbild zu den jahrzehntelang propagandistisch verbreiteten Behauptungen eines freiwilligen Beitritts zur Sowjetunion und den angeblichen Vorzügen des Sowjetsystems. Als in den 1980er Jahren Michail Gorbatschow (Gorbačëv) auf eine innere Reform des Systems setzte, entwickelte sich in wenigen Monaten eine nationale Unabhängigkeitsbewegung, der Sąjudis (= "Bewegung"). Am 13. März 1990 verkündete das erste frei gewählte litauische Parlament seit 1926 einseitig die Unabhängigkeit des Landes, doch waren die westlichen Staaten mit Ausnahme von Island nicht bereit, es wegen des Baltikums zu einem Bruch mit der sowjetischen Führung kommen zu lassen. Mit gewaltfreiem Widerstand und der ungeheuren Kraft einer friedlichen Massenbewegung gingen alle drei baltischen Staaten in die Auseinandersetzung mit der Zentrale in Moskau/Moskva, die nicht nur friedlich verlief: Am 13. Januar 1991 stürmten sowjetische Spezialeinheiten den Fernsehturm in Wilna und töteten dabei 13 litauische Zivilisten, darunter eine 19-Jährige. Der gescheiterte Moskauer Putsch im August 1991 machte schließlich den Weg zur Unabhängigkeit und völkerrechtlichen Anerkennung endgültig frei.

Die heutige Republik Litauen ist eine parlamentarische Demokratie und seit 2004 Mitglied der EU und der NATO. Das Staatsgebiet umfasst 65.300 km2, die Einwohnerzahl liegt bei 3,2 Millionen. 2012 gehörten 83,7 Prozent der Bewohner der Staatsnation an; die größten ethnischen Minderheiten stellten die Polen (6,6 Prozent), die Russen (5,3 Prozent) und mit deutlichem Abstand die Weißrussen (1,3 Prozent).[5]

Die Deutschen in Litauen

Die Geschichte der deutschen Minderheit in Litauen[6] begann im Mittelalter, wobei vor allem in Kauen/Kaunas ein erstes Zentrum entstand. 1552 lebten 124 deutsche Familien in der Stadt an der Memel. Ab dem 16. Jahrhundert, verstärkt im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts kamen Handwerker und Bauern ins Land, wodurch sich die deutsche Besiedlung stärker auf ländliche Gebiete konzentrierte. Die meisten deutschen Zuwanderer gehörten der evangelisch-lutherischen Konfession an, was die Gründung von eigenen Kirchengemeinden wie zum Beispiel Marijampol/Marijampolė oder Raseinen/Rasieniai zur Folge hatte. Geographisch konzentrierte sich die Volksgruppe auf das westliche und südwestliche Litauen. Bis ins 20. Jahrhundert existierten keine landsmannschaftlichen überregionalen Verbindungen, auf lokaler Ebene schuf die evangelische Kirche ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. In den 1920er Jahren betrug die Zahl der Litauendeutschen mindestens 30.000 (1,4 Prozent der Gesamtbevölkerung), doch sind genaue Angaben schwierig, da bei der Volkszählung 1923 die Datenerhebung in Bezug auf die Nationalität offenbar vielfach unzureichend war und dementsprechend nicht zutreffende Einträge in den Pässen vorgenommen wurden. Geht man von der Zahl der 1941/42 Umgesiedelten aus, erscheint eine Zahl von rund 45.000 Litauendeutschen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als realistisch.

Sieht man von einer kleinen städtischen Schicht ab, die vor allem in Kaunas und Marijampolė einen Schwerpunkt bildete (in den 1930er Jahren gab es ein deutsches Gymnasium in Kaunas), lebte eine deutliche Mehrheit (ca. 65 Prozent) auf dem Lande und arbeitete als Bauer, Knecht oder Handwerker in den Dörfern und kleinen Provinzstädtchen. Fast 70 Prozent der Volksgruppe lebte direkt oder indirekt von der Landwirtschaft, während akademische Berufe eine Ausnahmeerscheinung waren.

Das Schicksal der Litauendeutschen entschied sich durch eine deutsch-sowjetische Umsiedlungsvereinbarung vom 10. Januar 1941. Nach der baltendeutschen Minderheit in Estland und Lettland wurden nun auch die Deutschen in Litauen umgesiedelt. Insgesamt kehrten 50.142 Personen der Litauischen SSR den Rücken, doch der Weg 'Heim ins Reich' endete für die meisten zunächst in Aufnahmelagern im 'Warthegau'. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und der Eroberung Litauens kam es 1942 zu einer ideologisch bedingten Rücksiedlung litauendeutscher Bauern, denen einheimische Landwirte weichen mussten, was zu großen Spannungen zwischen den Rückkehrern und ihren Nachbarn führte. Die Zahl der Rücksiedler ist nicht mehr exakt zu erfassen, sie dürfte zwischen 17.000 und 20.000 Personen betragen haben.

Nach 1945 fanden viele Litauendeutsche in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Heimat. Ein weiterer Teil lebte in der DDR und eine nicht unbeträchtliche Menge kehrte Europa den Rücken und ließ sich in Nord- und Südamerika, vereinzelt auch in Australien nieder.[7]

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Arvydas Anušauskas: Lietuva 1940–1990. Okupuotos Lietuvos istorija [Litauen 1940–1999. Eine Geschichte des besetzten Litauen]. 2., überarb. u. erw. Auflage. Vilnius 2007.
  • Alfonsas Eidintas, Vytautas Žalys: Lithuania in European Politics. The Years of the First Republic, 1918–1940. New York 1998.
  • Manfred Hellmann: Das Großfürstentum Litauen bis 1569. In: Ders. (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 1, II: Bis 1613. Von der Kiever Reichsgründung bis zum Moskauer Zartum. Stuttgart 1989, S. 717–851.
  • Manfred Hellmann: Grundzüge der Geschichte Litauens und des litauischen Volkes. 4. Aufl. Darmstadt 1990.
  • Mešislovas Jučas: Lietuvos Didžioji Kunygaikštystė - istorijos bruožai [Das Großfürstentum Litauen - historische Grundzüge]. Vilnius 2010.
  • Zigmantas Kiaupa: Lietuvos valstybės istorija [Geschichte des litauischen Staates]. Vilnius 2004.
  • Zigmantas Kiaupa, Juratė Kiaupienė, Albinas Kuncevičius: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000.
  • Gerhard Schulz: Das polnisch-litauische Königreich. Machtverfall und Teilung. München 1995 (Geschichte und Historische Hilfswissenschaften 63).
  • Claudia Sinnig: Litauen - ein literarischer Reisebegleiter. Frankfurt/M. 2002.
  • Harry Stossun: Die Umsiedlung der Deutschen aus Litauen während des Zweiten Weltkrieges. Untersuchungen zum Schicksal einer deutschen Volksgruppe im Osten. Marburg/L. 1993 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 12).
  • Joachim Tauber, Tobias Weger (Hg.), Christian Gahlbeck, Vacys Vaivada (Bearb.): Archivführer zur Geschichte des Memelgebiets und der deutsch-litauischen Beziehungen. Oldenburg 2006 (Schriften des Bundesinstituts zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 27).
  • Stanley V. Vardys, Judith B. Sedaitis: Lithuania - The Rebel Nation. Boulder, Col. 1997.

Periodika

  • Lietuvos Istorijos Metraštis [Jahrbuch für Geschichte Litauens]

Weblinks

Anmerkungen

[1] § 3 der Union zitiert nach Hellmann: Grundzüge, S. 77.

[2] Vgl. Egidijus Aleksandravičius, Antanas Kulakauskas: Carų valdžioje Lietuva XIX. amžiuje [Litauen unter der Herrschaft der Zaren im 19. Jahrhundert]. Vilnius 1996; Darius Staliūnas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863. Amsterdam 2007.

[3] Hellmann: Grundzüge, S. 112.

[4] Vgl. zu den Ereignissen von 1905 Egidijus Motieka: Didysis Vilniaus Seimas [Der große Seimas von Wilna]. Vilnius 1996.

[5] Vgl. Daten des Statistikamts Litauen; www.stat.gov.lt/en.

[6] Auf die Bevölkerung des Memelgebietes wird im Artikel 'Litauen' nicht weiter eingegangen, vgl. dazu den Artikel 'Memel/Klaipėda'. Es genügt der Hinweis, daß sich die Memeldeutschen immer als Reichsdeutsche verstanden und die Herrschaft Litauens zwischen 1923 und 1939 als Okkupation empfanden. Zwischen den Litauendeutschen und den Memelländern kam es zu keinen politischen und sozialen Kontakten, was die Kluft zwischen den beiden Volksgruppen deutlich belegt.

[7] Die Angaben zu den Deutschen in Litauen folgen der einschlägigen Monographie von Harry Stossun zu den Umsiedlungen der Litauendeutschen. Zur Situation der Deutschen in Litauen nach 1945 vgl. den Artikel von Ruth Leiserowitz.

Zitation

Joachim Tauber: Litauen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32619 (Stand 20.08.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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