Mittelalterlicher Landesausbau/Ostsiedlung

1. Genese

Begriffsgeschichte

Die Erforschung der mittelalterlichen Ostsiedlung durch die deutsche Geschichtswissenschaft hat im Wesentlichen erst im 19. Jahrhundert eingesetzt. Begrifflich ist die Entwicklung von "Germanisation" bzw. "Germanisierung" und "(Ost-)Kolonisation" bzw. "ostdeutsche Kolonisation" über "deutsche Ostexpansion" und "deutsche Ostbewegung" zu "deutsche Ostsiedlung" oder "deutschrechtliche Siedlung" gegangen. Aufgrund der Erkenntnis, dass in diesen Entwicklungsprozess neben deutschen auch andere mittel- und westeuropäische Siedler sowie die ansässige Bevölkerung einbezogen worden sind, wird im Deutschen heute vornehmlich der Begriff "(hochmittelalterliche) Ostsiedlung" benutzt, dagegen der Terminus "Kolonisation", der in den meisten anderen Sprachen üblich ist, außer in Zusammensetzungen wie etwa "Kolonisation zu deutschem Recht" oder "mittelalterlicher Landesausbau und Kolonisation" wegen angeblich zu großer sprachlicher Nähe zum Kolonialismus der Neuzeit häufig eher vermieden.

Anderssprachige Entsprechungen

engl. colonization, poln. kolonizacja (niemiecka), slowak. kolonizácia, tschech. kolonizace, ung. kolonizáció, rum. colonizare

2. Definition

Der allgemeineuropäische mittelalterliche Kulturausweitungsvorgang und Landesausbau durch Schaffung neuer Siedler- und Bauernstellen aufgrund des Bevölkerungswachstums im Altsiedelland setzte nach einer Frühphase seit dem 7. Jahrhundert, verstärkt ab der Mitte des 10. Jahrhunderts zunächst in Katalonien ein und wurde in jeweils zeitlicher Phasenverschiebung bis nach Osteuropa vorgeschoben; um die Mitte des 14. Jahrhunderts kam er wegen verschiedener krisenhafter Erscheinungen (Pestepidemien, Naturkatastrophen, politische Unruhen) im Wesentlichen zum Stillstand und erlebte nur in weniger davon betroffenen östlichen Randgebieten eine Fortsetzung bis ins 16. Jahrhundert.

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Phasen der deutschen Ostsiedlung nach
W. Kuhn. [Wikimedia Commons].

Foto: Ziegelbrenner/CC BY-SA 3.0

Als Teil dieser Entwicklung bezeichnet der historiographische Begriff "Ostsiedlung" den Prozess von Besiedlung und Akkulturation, der in den Gebieten östlich der Reichsgrenze des ausgehenden 11. Jahrhunderts bis zum Finnischen Meerbusen, zum Schwarzen Meer und zur Save vornehmlich durch deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute getragen wurde. Während der Hauptphase der Ostsiedlung von der Mitte des 12. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts ist der deutsche Siedlungs- und Sprachraum um mehr als ein Drittel erweitert worden. Dieser hochmittelalterliche Landesausbau, an dem neben deutschen Siedlern (coloni Theutonici) auch andere Landfremde (z. B. Flamen, Reichsromanen, Dänen) und vor allem die einheimische Bevölkerung (Slawen, Balten) beteiligt waren, bewirkte eine Um- und Neugestaltung der Wirtschafts-, Rechts- und Verfassungsentwicklung des östlichen und südöstlichen Mitteleuropa und damit die materiell-kulturelle und institutionelle Angleichung "Neueuropas" an "Alteuropa" (Oskar Halecki). Die Ostsiedlung verlief zwar partiell auch in Verbindung mit Eroberung und Missionierung (Gebiet zwischen Elbe und Oder, Ordensland Preußen), zum größten Teil jedoch friedlich auf Initiative landsässiger Landes- und Grundherren.

3. Diskurse/Kontroversen

Durch die lange, bereits seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Ideologisierung des Bildes der Ostsiedlung - infolge der ethnischen Problematik - gehörte diese zu den am heftigsten umstrittenen Themen zwischen der slawischen und der deutschen Geschichtswissenschaft, wobei Schlagworte wie "Drang nach Osten" oder "Aggression deutscher Feudalherren" auf der einen und "Großtat des deutschen Volkes" (im Sinne einer Kulturträgertheorie) auf der anderen Seite die extremen Positionen markieren. Bedingt durch erweiterte, vergleichende und methodenpluralistische Forschungsansätze, nicht zuletzt vor allem auch durch die Erkenntnis der gesamteuropäischen Zusammenhänge dieses Kulturausweitungsvorgangs, ist nach dem Zweiten Weltkrieg - zunächst noch zögerlich, spätestens seit den Reichenau-Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte zwischen 1970 und 1972 aber immer stärker hervortretend - eine Annäherung der kontroversen Standpunkte erfolgt; heute spielen nationalistische Betrachtungsweisen in der Wissenschaft kaum mehr eine Rolle.

4. Geschichte

Landesverhältnisse bis 1200

Bis zur Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gab es im südlichen Ostseeraum, in den westslawischen Territorien, im Königreich Ungarn, in den Herzogtümern Steiermark und Kärnten sowie der Markgrafschaft Krain große Unterschiede in der Besiedlung. Umfangreichem, nahezu menschenleerem Brachland (v. a. Wald-, Sumpf- und Gebirgslandschaften) standen einzelne Siedelkammern auf landwirtschaftlich leicht nutzbaren Böden mit einer Bevölkerungsdichte bis über 20 Einwohner pro km2 gegenüber. Etwa um die Jahrtausendwende begann in einer ersten Phase des inneren Landesaubaus eine Siedlungsverdichtung und -konzentration, welche ältere, teilweise halbnomadische Lebensformen ablöste. Die bäuerliche Bevölkerung lebte in weilerartigen dörflichen Siedlungen mit zumeist geringer Einwohnerzahl. Daneben entwickelten sich als Wohnplätze von Kaufleuten und Handwerkern Märkte, teils angelehnt an landesherrliche Burgen (Suburbien), teils an Fernhandelsstraßen als Handelsniederlassungen, zumeist bereits mit einem gewissen Anteil an zugewandertem ausländischen Fachpersonal; mit der Verbreitung der Geldwirtschaft seit dem 12. Jahrhundert entstanden daneben auch kleinere lokale Märkte. Die bedeutendsten unter den präurbanen Agglomerationen mit gewissen landesherrlichen Marktprivilegien (z. B. Danzig/Gdańsk, Posen/Poznań, Breslau/Wrocław, Krakau/Kraków, Prag/Praha, Brünn/Brno) stellen zwar Städte im ökonomischen Sinne dar, Städte mit polnischem oder anderem slawischen Recht lassen sich jedoch nicht nachweisen. Die Masse der Bevölkerung stand trotz starker sozialer und rechtlicher Differenzierung in vielfacher Abhängigkeit von Landesherren und kirchlichen wie adligen Grundherren; ein Gemeindeverband mit einer Mitwirkung an Verwaltung und Gerichtsverfassung fehlte. Im Ackerbau herrschte die extensive Betriebsweise (Grasfelderwirtschaft) vor, Viehzucht und aneignende Wirtschaft (Jagd, Fischerei, Bienenzucht) spielten weiterhin eine wichtige Rolle.

Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bemühten sich die Landes- und vereinzelt bereits Grundherren (z. B. in Südmähren) in einer zweiten Phase des Landesausbaus um eine wirtschaftliche Evolution ihrer Länder und Besitzungen und eine Vermehrung der Bevölkerungszahlen zur Steigerung ihrer Einkünfte, teils mit einheimischen Kräften durch Verbesserungen im System der bäuerlichen Frondienste, worauf Ortsnamen wie tschech. Lhota, poln. Lgota (= Ermäßigung) hindeuten, teils durch Ansiedlung von sog. Freien Gästen (hospites). Diese Initiativen haben zwar keine großräumige Bedeutung erlangt, sie bildeten jedoch, gemeinsam mit dem bestehenden Märktesystem, eine entscheidende innere Voraussetzung für die seit Beginn des 13. Jahrhunderts einsetzende Kolonisation zu deutschem Recht.

Verlauf und Auswirkungen der Ostsiedlung

In ihrer Frühphase hatte die deutsche Ostsiedlung um 1200 in ihrem nordöstlichen Abschnitt etwa die Linie Schwerin - Spandau - Dresden erreicht, südlich der böhmisch-mährischen Grenzgebirge war sie bis Thaya und March und gegenüber dem Arpadenreich bis zur Linie Hainburg an der Donau - Marburg an der Drau/Maribor vorgeschoben worden (frühe Ausnahmen: Ansiedlung von "Sachsen" als Grenzwächter im Norden - Zips - und Südosten - Siebenbürgen - des Königreichs Ungarn seit dem 12. Jahrhundert). Wesentliche Impulse für den von West nach Ost bzw. Süd und Südost fortschreitenden Landesausbau haben die stetige Bevölkerungszunahme im westlichen Altsiedelland, die Entwicklung der abendländischen Stadt als Bürgergemeinschaft und v. a. die Fortschritte der Agrar- und Meliorationstechnik (Dreifelderwirtschaft, Räderpflug mit Streichbrett, langgestielte Sense, Wasser- und Windmühlen, Deichbausysteme) geliefert, deren einzelne Elemente trotz teilweise älterer Anwendung auch im ostmitteleuropäischen Raum erst im Zusammenhang mit geänderten Wirtschaftsformen, Bevölkerungsbewegungen und dem Umbau der Sozialstruktur die "agrarische Revolution" bewirkt haben. In den östlichen Grenz- und Markengebieten des Reiches (z. B. Erzgebirgsvorland in der Mark Meißen) sind im 12. Jahrhundert die für den Landesausbau Ostmitteleuropas beispielgebenden Siedel- und Rechtsformen entwickelt worden. Die prinzipielle Gleichrangigkeit aller Siedler auf Rodeland erforderte die planmäßige Zuteilung gleich großer und gleichwertiger Flurstücke (Hufen, mansi). In den Ebenen mit stärkerer Vorbesiedlung setzte sich das anpassungsfähige Angerdorf mit flämischen Hufen (ca. 16,8 ha) - in Pommern und Preußen daneben auch noch mit Hakenhufen (ca. 9,8 ha) - durch, auf Waldböden und im Vorgebirge bis in Gebirgsregionen hinein das strenger gegliederte Waldhufendorf mit fränkischen Hufen (ca. 24,2 ha). Die mit der Siedlungsplanung und -durchführung verbundenen vielfältigen Organisationsaufgaben sind Siedelunternehmern (Lokatoren, "Siedlungsmeister"), zumeist aus dem niederen Adel oder dem Bürgertum, übertragen worden, die dafür von den Grundherren zins- und zehntfreie Hufen, das erbliche Schulzen- oder Dorfrichteramt in den Dörfern bzw. die Vogtei in den Städten mit Einkünften aus der niederen Gerichtsbarkeit sowie örtliche Gewerbebetriebe und das Mühlen- und Schankrecht erhielten. Den Siedlern wurden persönliche Freiheit und Freizügigkeit, ungehindertes Verfügungsrecht über den zugeteilten Besitz (Erbleihe) mit vertraglich festgelegten Verpflichtungen (fixierte Zins- und Zehntleistungen, Mitwirkung an Landesverteidigung, Steuern), Recht auf Selbstverwaltung und Ausübung der eigenen materiellen Rechtsgewohnheiten zugestanden. Als Summe dieser Freiheiten (libertates) ist das gegenüber den bestehenden Rechtsverhältnissen in Altdeutschland wie den östlichen Nachbarstaaten günstigere Siedelrecht als ius Teutonicum (slawische Länder) bzw. ius hospitum (Ungarn) bezeichnet worden.

Die Gewährung dieser Vorrechte hatte die Befreiung (immunitas) von Lasten und Anforderungen der heimischen Rechte durch die Landesherren zur Voraussetzung. Aufgrund dieses Hoheitsrechts, wegen ihrer Stellung als größte Grundherren und ihres Anspruchs auf das Eigentum am unbesiedelten Land sind die Greifen in Pommern, die Piasten in den polnischen Teilfürstentümern, die Přemysliden in Böhmen und Mähren, die Arpaden in Ungarn, die Herzöge von Steiermark und Kärnten, die Markgrafen von Krain sowie der Deutsche Orden in Preußen und später in Livland die wichtigsten Initiatoren des Landesausbaus ihrer Territorien geworden. Wegen der niedrigen Bevölkerungsdichte ihrer Länder zogen sie dazu deutsche, flämische und wallonische Siedler heran; neben Zielen der wirtschaftlichen Strukturverbesserung und Produktivitätssteigerung (Rentengrundherrschaft) verfolgten sie v. a. in der Frühzeit auch Interessen der Grenzsicherung und Herrschaftserweiterung. Dabei werden Elemente einer umfassenden Landesplanung sichtbar.

Einzelne frühe, weit in Grenzgebiete hinein vorgeschobene Siedelvorstöße zwangen zur Abkehr vom überkommenen System der breiten, bewaldeten Grenzsäume zwischen den Territorien. Daher bildete häufig deren Rodung und Besiedlung die erste Stufe der intensiven Kolonisation, besonders in Regionen mit zusätzlich hohem Anteil an kirchlichem und adligem Großgrundbesitz neben landesherrlichem Gut (Nord- und Südmähren, Südböhmen, Neisse-Ottmachauer Bistumsland/Ziemia otmuchowsko-nyska in Schlesien, westliches Großpolen). Als erster slawischer Fürst außerhalb des Reiches hat Herzog Heinrich/Henryk I. von Schlesien (1201–1238) in großer Zahl deutsche Bauern und Bürger anwerben lassen, die in einem komplexen System Städte mit Zentralortfunktionen als wirtschaftliche und rechtliche Mittelpunkte einer Gemeinschaft sowie einheitlich entworfene und angelegte Dörfer in deren Umkreis (Weichbildsystem) in den westlichen und südwestlichen Grenzgebieten Niederschlesiens in einem Gesamtumfang von 8.000 fränkischen Hufen gegründet haben. Neben herzoglichen Lokatoren hat er dabei auch Klöster und Ritterorden eingesetzt, die entweder mit umfangreichen Landausstattungen begabt oder direkt in Grenznähe gegründet worden sind. In ähnlicher Weise waren vor der Jahrhundertmitte Zisterzienser, Prämonstratenser, Templer, Johanniter oder der Deutsche Orden in den Randzonen Böhmens und Mährens, an der pommersch-großpolnischen und der großpolnisch-schlesischen Grenze, in der Zips und in Siebenbürgen tätig. Damit und zusätzlich v. a. durch ihre Monopolstellung im hochmittelalterlichen Bildungs- und Fürsorgewesen ist der Kirche eine wichtige Rolle im Landesausbau des 13. Jahrhunderts zugewachsen. Seit dessen Ausgang haben Landesherren kirchliche Organisationen nur noch selten (Ostpommern) zu größeren Siedlungsaufgaben herangezogen.

Vorbildcharakter für den im 13. und 14. Jahrhundert ganz Ostmitteleuropa erfassenden Umgestaltungsprozess durch die Einführung der Rentengrundherrschaft als Ordnungselement des Landesausbaus gewann die großräumige Siedlungsplanung auf landesherrlichem Dominialbesitz (z. B. Erschließung des Beskidenvorlandes unter Herzog Wladislaus/Władysław von Oppeln [1246–1281] durch Siedler aus Niederschlesien), teilweise auch unter zielgerichteter Einbindung des Adels. So verliehen die ungarischen Könige in Westungarn an der umstrittenen Grenze zum Heiligen Römischen Reich weite Landgebiete an Magnaten zur Besiedlung nach deutschem Recht mit Kolonisten aus den Herzogtümern Österreich und Steiermark. Auch die Szekler, ein Turk-Volk, das sich schon früh den Magyaren angeschlossen hatte, wurden als privilegierte Grenzwächter sowohl im Westen als auch im Osten des Königreichs angesiedelt. Das südliche Kleinpolen (Karpatenvorland) und das östlich anschließende Rotreußen sind unter König Kasimir III. dem Großen/Kazimierz Wielki (1333–1370) durch schlesische und polnische Siedler erschlossen worden. Parallel zur weiteren Ausbreitung deutschrechtlicher Rodungssiedlungen im nördlichen Rotreußen (Ostpolen) seit 1370 durch polnische und ukrainische Kolonisten hat im Karpateninneren (oberhalb 500 m) die Besiedlung durch Walachen (Rumänen) und Ukrainer zu walachischem Recht eingesetzt (Anpassung des deutschen Rechts an eine hirtenbäuerliche Lebensweise).

Verlief in all diesen Fällen die Kolonisation als reine Siedlereinwanderung bzw. -ausbreitung auf Initiative der Landes- und Grundherren in friedlichen Bahnen, so stehen - wie in den Jahrhunderten zuvor in den ursprünglich von slawischer Bevölkerung besiedelten Grenzmarken des Deutschen Reiches - im Ordensland Preußen Eroberung, Missionierung und Landesausbau in Zusammenhang. Zwar wurden Teile der prußischen Bevölkerung vernichtet, die unterworfenen und christianisierten Adligen und Bauern aber gemeinsam mit deutschen Siedlern in das Konzept der Kultivierung einbezogen. Da der Deutsche Orden das Obereigentum am Grundbesitz beanspruchte, konnte er weitgehend die Siedlung lenken, die im Kulmer Land/Ziemia Chełmińska (Kulmer Handfeste 1233) einsetzte, bis zum Ende des 13. Jahrhunderts den Nordrand von Pomesanien erreichte und sich im 14. Jahrhundert auf die "Große Wildnis" (später Masuren) ausdehnte. Organisiert wurde sie von Ordenskomturen und Dienstgutinhabern. In den südlichen Landesteilen haben im 15. Jahrhundert auch slawische Kleinadlige und Bauern an der Rodung des Waldes teilgenommen.

Das ursprüngliche Bestreben der Landesherren, die einheimische Bevölkerung in der alten Rechts- und Sozialstruktur zu halten, ist in der Regel nach wenigen Jahrzehnten aufgegeben worden. Durch die Verleihung des emphyteutischen Siedelrechts (Vergabe von Grund und Boden zu Erbpacht) an slawische und prußische Bauern ist eine einheitliche, unabhängigere Bauernschicht entstanden, große Teile des Altsiedellandes sind durch Reorganisation der bäuerlichen Wirtschaft, Einführung der Hufenverfassung, die Ausbreitung der neuen Dorftypen und das Vordringen des Städtewesens tiefgreifend umgestaltet worden. In manchen Gebieten haben sich jedoch Reste der vorkolonisatorischen Agrarverhältnisse erhalten. Während in Pommern und Preußen, im westlichen Polen, in Schlesien und Mähren neben einheimischen auch deutsche Bauern im Altsiedelland eingesetzt worden sind, fehlen diese in den zu deutschem Recht umgesetzten Dörfern in Innerböhmen, Zentralpolen und Innerungarn fast völlig. Die Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche war begleitet von einer Intensivierung und Spezialisierung der Agrarproduktion ("Vergetreidung", Produktion für den Markt bis zum überregionalen Handel), deren gewaltige Steigerung (bis zu 150 Prozent) die Bevölkerungsvermehrung (bis zum Fünffachen) und die Entfaltung des Städtewesens ermöglicht hat. Im Zuge des intensivierten Landesausbaus sind auch ein allgemeiner Ausbau der Kirchenorganisation in den einzelnen Territorien, eine erhebliche Vermehrung der Zahl der Niederkirchen und eine fortschreitende Verdichtung des Pfarreinetzes zu beobachten, ohne dass freilich die Ursachen dafür allein in der deutschrechtlichen Besiedlung zu suchen wären.

Städtegründungen

Die enge Verflechtung von ländlicher und städtischer Siedlung stellt einen wesentlichen Aspekt des Landesausbaus dar. Nur bei Siedlung "aus wilder Wurzel" kann man von einer einfachen Übertragung der abendländischen Stadt als ausgebildeter Form sprechen; in den alten Märkten, an deren Stelle oder in deren unmittelbarer Nachbarschaft Stadtgründungen vorgenommen wurden, waren vielfach Voraussetzungen für die Entfaltung des neuen urbanen Systems gegeben. Qualitativ standen die deutschrechtlichen Städte auf rechtlicher (Selbstverwaltung, eigene Rechtsprechung), wirtschaftlicher (Handelsprivilegien, Handwerkervorrechte, Nahmarktfunktionen) und sozialer Ebene (bürgerliche Freiheit) freilich auf einer höheren Stufe, siedlungstechnisch waren sie vorwiegend am Zentralmarktschema ("Ring", Gitter- oder Rastermuster) orientiert. Die frühe Gewährung ethnischer Gruppenrechte durch die Landesherren für deutsche, romanische oder jüdische Untertanen (z. B. Herzog Soběslav von Böhmen 1176/78 für die Prager Deutschen) enthält bereits Züge späterer Stadtrechtsverleihungen.

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Deutsche Ostsiedlung um 1300. Szene
aus der Oldenburger Bilderhandschrift
des Sachsenspiegels, 1336. [Landes-
bibliothek Oldenburg, Cim 410 l, fol 87r,
Leihgabe der Niedersächsischen
Sparkassenstiftung]

Als zentrales Element des Lokationsvorgangs haben diese häufig eine Etappe oder den Endpunkt einer langgestreckten Entwicklung mit gesellschaftsstruktureller Annäherung eingesessener Bevölkerung und deutscher Zuwanderer gebildet, mitunter blieb die alte Marktsiedlung mit ihren weltlichen oder geistlichen Besitzern und deren Untertanen neben der Lokationsstadt bestehen, bis der topographisch-ethnische Dualismus durch eine Stadterweiterung ausgeglichen wurde. Die Rechtseinheit in den einzelnen Territorien ist durch die Entstehung von Stadtrechtslandschaften und die Einrichtung von Oberhöfen zur Einholung von Rechtsbelehrungen gewährleistet worden: Lübisches Recht an der Ostseeküste, Magdeburger Recht mit Unterformen (z. B. Kulmer, Neumarkter, Leitmeritzer, Olmützer Recht/prawo chełmińskie, średzkie; litoměřické, olomoucké právo) von Preußen bis Nordböhmen und -mähren sowie süddeutsche Rechte (Nürnberg, Wien) mit Unterformen (v. a. Egerer, Prager, Brünner Recht/chebské, pražské, brněnské právo) in Böhmen, Mähren und Ungarn.

Haben zuerst eindeutig wirtschaftliche Interessen - Bergstädte (z. B. Goldberg/Złotoryja und Löwenberg/Lwówek Śląski in Schlesien, Freudenthal/Bruntál, Iglau/Jihlava und Leobschütz/Głubczyce in Mähren) und große Fernhandelszentren (z. B. Breslau, Posen, Krakau) gehören zu den frühesten Lokationen - dominiert, so sind bald auch Ziele der Landesverteidigung und administrative Notwendigkeiten für die Gestaltung und den Ausbau des Städtenetzes bedeutsam geworden. In den intensivsten Phasen der Kolonisation im 13. Jahrhundert waren daher die Städtegründungen fast ganz in landesherrlicher Hand konzentriert; lediglich zu Beginn und dann in zunehmendem Maße seit dem 14. Jahrhundert entstanden daneben bischöfliche, klösterliche und Adelsstädte (v. a. in Polen). Die planerische Energie der Landesherren wird in zahlreichen Eingriffen in kirchliche oder adlige Besitzrechte, in einigen Fällen auch in Zwangstauschaktionen oder Stadtverlegungen sichtbar. Auf der anderen Seite verhinderte die enge Bindung an den Stadtherrn das Entstehen freier Reichsstädte wie in Deutschland; eine gewisse Sonderstellung konnten immerhin eine Reihe von Städten an der Ostseeküste durch ihre Einbeziehung in die Wirtschafts- und Rechtsstrukturen der Hanse oder Breslau als Inhaber der Landeshauptmannschaft des gleichnamigen Herzogtums erlangen. Im besonders dicht besiedelten Schlesien betrug der mittlere Abstand zwischen den Städten 14–20 km, der größte Teil erfüllte Weichbildfunktionen für durchschnittlich 15–20 Dörfer; dagegen haben an der östlichen und südöstlichen Peripherie Ostmitteleuropas wegen des Fortbestehens von Märkten ohne formales Stadtrecht stadtarme Bereiche fortbestanden.

In allen Rechts- oder institutionellen Städten des 13. Jahrhunderts waren die Ober- und der größte Teil der Mittelschicht deutscher Herkunft, sodass selbst in Gebieten ohne größere deutsche Bauernsiedlung (neben Innerböhmen, Zentralpolen und Innerungarn auch Altlivland, Südsteiermark und Krain) deutsche Zentren entstanden. In den städtischen Unterschichten dürfte zumindest im Altsiedelland die eingesessene Bevölkerung in der Mehrheit gewesen sein, sodass gelegentlich soziale und nationale Gegensätze des Spätmittelalters einander bedingt haben.

Ab dem 14. Jahrhundert hat ein sprachlicher und sozialer Ausgleichs- und Assimilierungsprozess eingesetzt, durch den bis zum Beginn der Neuzeit der Großteil Pommerns, die nördlichen Teile Preußens, die Neumark, Schlesien links der Oder, die böhmisch-mährischen Randgebiete, die Obersteiermark und Kärnten bis auf kleine Reste deutsch-, das östliche Oberschlesien und das südliche Kleinpolen wieder polnischsprachig geworden sind; daneben haben sich kleine deutsche Sprachinseln (z. B. in Galizien; Iglau; Hauerland; Gottscheer Land/Kočevska in der Krain) und Mischzonen mit Zweisprachigkeit erhalten.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Robert Bartlett: The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change, 950–1350. Princeton 1993. Dt. Ausgabe: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350. München 1998.
  • Felix Biermann, Günter Mangelsdorf (Hg.): Die bäuerliche Ostsiedlung des Mittelalters in Nordostdeutschland. Untersuchungen zum Landesausbau des 12. bis 14. Jahrhunderts im ländlichen Raum. Frankfurt/M. u. a. 2005 (Greifswalder Mitteilungen 7).
  • Lothar Dralle: Die Deutschen in Ostmittel- und Osteuropa. Ein Jahrtausend europäischer Geschichte. Darmstadt 1991.
  • Peter Erlen: Europäischer Landesausbau und mittelalterliche deutsche Ostsiedlung. Ein struktureller Vergleich zwischen Südwestfrankreich, den Niederlanden und dem Ordensland Preußen. Marburg 1992 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 9).
  • Eike Gringmuth-Dallmer: Die hochmittelalterliche Ostsiedlung in vergleichender Sicht. In: Siedlungsforschung 24 (2006), S. 99–121.
  • Charles Higounet: Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter. Berlin 1986.
  • Jiří Kejř: Vznik městského zřízení v českých zemích. Praha 1998. Dt. Ausgabe: Die mittelalterlichen Städte in den böhmischen Ländern. Gründung - Verfassung - Entwicklung. Köln u. a. 2010 (Städteforschung A 78).
  • Adrienne Körmendy: Melioratio terrae. Vergleichende Untersuchungen über die Siedlungsbewegung im östlichen Mitteleuropa im 13.–14. Jahrhundert. Poznań 1995 (Prace Komisji Historycznej, Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk 48).
  • Dorota Leśniewska: Kolonizacja niemiecka i na prawie niemieckim w średniowiecznych Czechach i na Morawach w świetle historiografii [Die deutsche und deutschrechtliche Kolonisation im mittelalterlichen Böhmen und Mähren im Lichte der Historiographie]. Poznań, Marburg 2004 (Prace Komisji Historycznej, Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk 61).
  • Jan M. Piskorski (Hg.): Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparative Analysis against the Background of other European Inter-Ethnic Colonization Processes in the Middle Ages. Boulder, New York 2002 (East European Monographs 611).
  • Jan M. Piskorski: Kolonizacja wiejska Pomorza Zachodniego w XIII i w początkach XIV wieku na tle procesów osadniczych w średniowiecznej Europie [Die ländliche Kolonisation Pommerns im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Siedlungsprozesse im mittelalterlichen Europa]. Poznań 1990 (Prace Komisji Historycznej, Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk 41).
  • Eduard Mühle (Hg.): Rechtsstadtgründungen im mittelalterlichen Polen. Köln u. a. 2011 (Städteforschung A 81).
  • Walter Schlesinger (Hg.): Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970–1972. Sigmaringen 1975 (Vorträge und Forschungen 18).
  • Armin Volkmann: Mittelalterliche Landeserschließungen und Siedlungsprozesse in der unteren Wartheregion (Woj. Zachodnio-Pomorskie, Lubuskie und Wielkopolskie bzw. ehemalige Neumark). Langenweißbach 2006 (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 44).
  • Thomas Wünsch: Ostsiedlung in Rotrußland vom 14.–16. Jahrhundert - Problemaufriß für die kulturgeschichtliche Erforschung eines Transformationsprozesses in Ostmitteleuropa (mit besonderer Berücksichtigung der terra Halicz). In: Österreichische Osthefte 41 (1999), S. 47–82.

Zitation

Winfried Irgang: Mittelalterlicher Landesausbau/Ostsiedlung. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32861 (Stand 06.12.2021).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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