Minderheitenschutzverträge

1. Genese

Die Wurzeln des Minderheitenschutzes in Europa reichen bis ins Mittelalter zurück. Nationale Minderheiten im eigentlichen Sinne treten aber erst seit dem 18. Jahrhundert in Erscheinung, nachdem mit der Französischen Revolution die Nationalstaatsidee geboren wurde. Auch wenn mit Erstarken des Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert überall in Europa die Frage des ethnischen Minderheitenschutzes zu einem Problem auf internationaler Ebene heranwuchs, blieb sie bis zum Ersten Weltkrieg ein eher marginaler Bereich des Völkerrechts. Erst nach dem Zerfall der Großmächte - des habsburgischen Österreich-Ungarn, des Osmanischen Reiches und des Russischen Zarenreiches - wurde im Rahmen des Völkerbundes ein erstes Schutzsystem für ethnische, sprachliche und religiöse Minderheiten aufgebaut.

Anderssprachige Entsprechungen

engl. Minority Treaties, Minorities Protection Treaties

2. Definition

Der Begriff "Minderheitenschutzverträge" meint im engeren Sinne die Minderheitenschutzregelungen auf Grundlage von multi- und bilateralen Verträgen sowie einseitiger Erklärungen, welche als Folge der Pariser Friedenskonferenz von 1919 in Kraft traten. Im weiteren Sinne wird er in der Literatur als Sammelbegriff für völkerrechtliche Verträge zum Schutz von Minderheiten verwendet.

3. Diskurse/Kontroversen

Das in der Zwischenkriegszeit vorherrschende Friedenskonzept bestand im Nebeneinander ethnisch homogener Nationalstaaten, aufbauend auf dem normativen Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Abweichend von diesem Ideal schufen die Siegermächte nach 1918 durch die neuen Grenzziehungen im Zuge der Pariser Vorortverträge multiethnische Staaten mit einer Vielzahl von Minderheiten, da die Staatsgrenzen nicht mit den ethnischen Siedlungsgebieten übereinstimmten. Um die Interessenspolitik der Siegermächte mit dem zuvor verkündeten Vierzehn-Punkte-Programm des US-Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) in Einklang zu bringen, wurde als ausgleichendes Element ein System von Minderheitenschutzverträgen aufgebaut; den neuen Staaten in Mittel- und Osteuropa wurde ihre Beteiligung an dem Minderheitenschutzsystem zur Vorbedingung für die Aufnahme in den Völkerbund gemacht. Die Siegermächte lehnten es unterdessen ab, sich am Minderheitenschutzsystem zu beteiligen. Dieser diskriminierende Aspekt, nämlich dass nur die neu entstandenen und die besiegten Staaten zu Schutzmaßnahmen verpflichtet wurden, gilt als einer der Gründe für das Versagen des Minderheitenschutzsystems im Völkerbund.

4. Historischer Abriss

Verhandlungsgegenstand des Versailler Vertrages war die Frage der Verantwortung des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sowie die daraus abgeleiteten Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen an die Siegermächte. Das Deutsche Reich sollte durch Abrüstung und territoriale Verluste erheblich geschwächt werden. Wilsons Vierzehn Punkte wurden dabei von verschiedenen Seiten in Anspruch genommen, um Interessenspolitik zu verfolgen - etwa um die Ideale der Selbstbestimmung der Völker und der territorialen Übereinstimmung zwischen Volk und Staat umzusetzen. Die Verhandlungen führten aber weder zu einem von Deutschland erhofften milden Frieden, der im Wesentlichen den Status quo ante wiederherstellen würde, noch zu einer Garantie der Minderheitenrechte deutscher Bevölkerungsteile in den abgetretenen Gebieten Ostmitteleuropas.

Die wichtigsten multilateralen Verträge sind die beiden Hauptfriedensverträge von Versailles vom 28. Juni und St. Germain vom 10. September 1919. Ferner sind hier die Friedensverträge der Alliierten mit Bulgarien, Ungarn und der Türkei zu nennen. Spezielle Minderheitenschutzverträge wurden mit Polen, Griechenland, Rumänien, Jugoslawien und der Tschechoslowakei geschlossen. Von den bilateralen Verträgen soll hier nur das deutsch-polnische Abkommen über Oberschlesien von 1922 herausgestellt werden. Das Hauptziel dieses Vertrages bestand einerseits in der Herstellung der Gleichheit von Minderheitenangehörigen und sonstigen Staatsangehörigen und anderseits in der Bereitstellung von Mitteln zur Wahrung der Identität der ersteren.

Der Versailler Vertrag wurde in der Weimarer Republik zunehmend innenpolitisch instrumentalisiert, insbesondere durch den Revisionismus der nationalsozialistischen Bewegung und die sog. "Dolchstoßlegende". Viele Bestimmungen wurden in den ersten Jahren nach Hitlers Machtergreifung beseitigt, etwa durch die militärische Wiederaufrüstung und Wiederbesetzung des Rheinlandes.

Mit dem Ende des Völkerbundes und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs scheiterte auch der erste Versuch zur Etablierung eines internationalen Minderheitenschutzsystems; es wurde nicht mehr angewendet, obwohl es nie ausdrücklich aufgehoben worden war. In der unmittelbaren Folgezeit kamen nur noch wenige Minderheitenschutzverträge zustande, etwa das Südtirol betreffende Gruber-de Gasperi-Abkommen zwischen Italien und Österreich von 1946 oder auch der Friedensvertrag zwischen Bulgarien, Ungarn und Rumänien von 1947.

Während des Kalten Krieges waren Minderheitenfragen von geringerem politischem Interesse. Die Übernahme der Schutzfunktion gegenüber nationalen Minderheiten durch die Vereinten Nationen (UN) wurde weitestgehend abgelehnt. Die UN konzentrierte sich infolgedessen vermehrt auf den Schutz individueller Menschenrechte, während sich der Minderheitenschutz auf die nationale Ebene verlagerte. Ein vorsichtiger Wandel in der Haltung zum Schutz von Minderheiten durch völkerrechtliche Verträge setzte in den 1960er Jahren ein und führte zur Aufnahme des Artikels 27 in den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966. In den 1990er Jahren – nach dem Zusammenbruch der Vielvölkerstaaten Sowjetunion, Jugoslawien und Tschechoslowakei – gewannen Minderheitenfragen erneut an politischer Bedeutung. Dabei war es zunächst die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und später der Europarat, die sich für die Lösung der ethnischen Konflikte durch bilaterale und multilaterale Vertragswerke einsetzten. Das konkrete Ergebnis der Bemühungen im Europarat waren zwei im Jahr 1998 in Kraft getretene Völkerrechtsinstrumente: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Parallel dazu wurden zwischen einigen mittel- und osteuropäischen Ländern wieder bilaterale Verträge geschlossen, die Bestimmungen zum Minderheitenschutz enthielten. Einen weiteren Schub erhielt der internationale Minderheitenschutz dann durch die EU-Minderheitenpolitik im Rahmen der Osterweiterung.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Dieter Blumenwitz (Hg.): Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. Köln 2001 (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht 19).
  • Dirk Engel: Die sprachenrechtliche Situation der Angehörigen von Minderheiten im Völkerrecht. Berlin 2002 (Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam 13).
  • Erwin Viefhaus: Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 1960.
  • Frank-Lothar Kroll, Matthias Niedobitek (Hg.): Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa. Berlin 2005 (Chemnitzer Europastudien 1).
  • Gerrit Manssen, Bogusław Banaszak (Hg.): Minderheitenschutz in Mittel- und Osteuropa. Frankfurt/M. u. a. 2001.
  • Gaetano Pentassuglia: Minorities in International Law: an Introductory Study. Strasbourg 2002 (Minority issues handbook).
  • Sarah Pritchard: Der völkerrechtliche Minderheitenschutz. Historische und neuere Entwicklungen. Berlin 2001 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 55).

Weblink

Zitation

Christoph Schnellbach: Minderheitenschutzverträge. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32688 (Stand 07.12.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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