Dialekt

1. Genese

Der deutsche Sprachraum mit seiner starken territorialen Gliederung, seiner wechselhaften politischen Geschichte und seiner als Resultat einer dialektalen Durchmischung entstandenen Standardsprache hat eine kleinräumig ausgeprägte Mundartlandschaft. Die ältesten fassbaren Zustände der deutschen Sprache (Althochdeutsch, Altniederdeutsch) weisen bereits das bis heute existierende Dialektkontinuum Oberdeutsch-Mitteldeutsch-Niederdeutsch auf. Das im deutschen Sprachraum deutlich hervortretende Verhältnis zwischen Ortsdialekt, Landschaftssprache (Regionalsprache) und Standardsprache („Hochsprache“) ist in der Frühen Neuzeit mit der Herausbildung der deutschen Standardsprache (Lutherische Bibelsprache, Kanzleisprachen) als Ausgleichsform aus allen drei deutschen Dialekträumen auf mitteldeutscher Grundlage entstanden. In diese Zeit fallen auch erste Verwendungen des Fremdworts Dialektus, es gesellt sich die Lehnschöpfung Mundart von Philip von Zesen (1619–1689) hinzu. Mit der Existenz landschaftlich unterschiedlicher Sprechweisen und der als Kontrastfolie immer breiteren Raum gewinnenden und mehr und mehr funktionale Domänen übernehmenden Standardsprache entstehen sowohl negative (sozialer Indikator, Sprachbarriere) als auch positive (Heimat, Identität) Sprechereinstellungen und Dialektbewertungen. Gegenwärtig sind Dialekt und landschaftliches Sprechen im deutschen Sprachraum geprägt von (auch medialer) Affirmation und Popularität einerseits, vom Rückgang und Schwund vor allem der Orts- beziehungsweise Basisdialekte im mittel- und niederdeutschen Sprachraum zugunsten eher großlandschaftlich geprägter Sprechweisen (Regionalsprachen) andererseits.

Die wissenschaftliche Erforschung der Dialekte setzt im 19. Jahrhundert ein. Bahnbrechend wirkte unter anderem das Bayrische Wörterbuch von Johann Andreas Schmeller (1785–1852). Spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die meisten großen Dialektwörterbuchprojekte im deutschen Sprachraum initiiert; sie sind nach meist langen Bearbeitungszeiträumen inzwischen beendet (Rheinisches Wörterbuch, 1923–1971; Pfälzisches Wörterbuch, 1912–1998), teilweise aber auch gegenwärtig noch nicht fertiggestellt (z. B. Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch, 1924ff.). Eine weitere zentrale Aufgabe der Dialektologie war und ist die Erstellung von Dialektatlanten. Grundlegendes Werk ist der 1876 von Georg Wenker (1852–1911) begründete Deutsche Sprachatlas (DSA). Dieser wie auch viele der Dialektwörterbücher schließen die Sprachinseldialekte und Siedlungsdialekte jenseits von Staats- und Reichsgrenzen mit ein. Der Wortgeographie kommt in der Dialektologie eine besondere Rolle zu (z. B.: Semmel - Brötchen - Schrippe, Tomate - Paradeiser, Fleischer - Metzger).[1] Kennzeichnend für die jüngere Dialektforschung ist die Beendigung des Primats der klassischen Grammatikographie mit Laut- und Formenlehre und eine Hinwendung zu soziolinguistischen und pragmalinguistischen Fragestellungen, wobei größeres Augenmerk auf Aspekte wie Regiolekt, Sprechereinstellungen, das Verhältnis Dialekt-Standardsprache und neuere diachrone Entwicklungen gelegt wird.

2. Definition

Der Terminus „Dialekt“ in der Sprachwissenschaft

„Dialekt“ (von griech. διάλεκτος, auch: „Mundart“, regional: „Platt“[2]) steht in der Sprachwissenschaft für regional abgrenzbare, durch starke strukturelle Ähnlichkeit mit benachbarten Systemen gekennzeichnete, wenig kodifizierte und verschriftlichte Sprachsysteme (Bussmann).[3] Konstituierend ist die kontrastiv wirksam werdende Mischung aus Divergenz und Konvergenz mit einem (konstruierten) überdachenden Diasystem, das gemeinhin als Dachsprache, Standardsprache, Hochsprache bezeichnet wird. Die Dialekte des Deutschen stehen also in einem Spannungsverhältnis zur deutschen Standardsprache, das situativ durch (ggf. auch subjektiv empfundene) Distanz und Nähe charakterisiert ist. Mit den Dialekten beschäftigt sich die sprachwissenschaftliche Teildisziplin der Dialektologie, wobei deren Themenfelder in alle Kernbereiche der Sprachsystemlinguistik (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Lexik, Syntax etc.) sowie der Sprachgebrauchsforschung (Soziolinguistik, Pragmatik, Gesprächslinguistik etc.) hineinreichen; mit der historischen Dimension der Dialekte beschäftigt sich die diachrone (historische) Dialektologie. Als diastratisch, diaphasisch, diasituativ und diatopisch definierte Sprachvarietäten (Goossens) haben Dialekte neben der landschaftlich determinierten zu- beziehungsweise abnehmenden regionalen Färbung eine deutlich markierte soziale und situative Komponente. Dialekt als geographisch fassbare (areale) Varietät innerhalb einer Sprache steht idealiter für das sprachlandschaftliche Phänomen der Ortsmundart (Grundmundart, Basisdialekt; greifbar werdend in der dialektologischen Ortsgrammatik), praktisch aber können damit auch großräumige areale Sprachvariationsphänomene bezeichnet werden (Landschaftssprachen: exemplarisch etwa in den großen Dialektwörterbüchern[4]Rheinisches Wörterbuch, Preußisches Wörterbuch usw. – und Sprachatlanten), wobei landschaftliche Sprachvarietäten ein Kontinuum mit zahlreichen Übergangsstufen und einer höheren oder geringeren Anzahl dialektaler Merkmale bilden. Trotz einer für einzelne Dialektlandschaften sehr reich vorhandenen Mundartliteratur (z. B. Fritz Reuter für das Niederdeutsche) sind Dialekte sprachsystematisch determiniert durch genuine Mündlichkeit (Oralität). Sprachpragmatisch sind Dialekte ferner an spezifische Verwendungssituationen gebunden, die sich auszeichnen durch die Faktoren Lokalität und soziale (Sprech-)Situation. Sprecher, denen ein voll ausgebautes Sprachsystem zur Verfügung steht – vollständige Muttersprachlichkeit existiert nur mit der zusätzlichen Beherrschung der (schriftsprachlichen) Standardvarietät als der Sprache des öffentlichen Raums, der Politik und der Medien –, können je nach kommunikativer Situation und ihrer Reichweite zwischen verschiedenen Sprechweisen (dialektal, regional, großregional, standardsprachlich) wechseln.[5] Die Beherrschung eines der beiden Pole dieser Skala kann dabei idiolektal defektiv sein. Die Funktionen von Dialekt sind ferner im städtischen Raum andere als in ländlich-dörflichen Sprechergemeinschaften, da in letzteren die überdachende Standardsprache oft eine geringere Rolle spielt. Die Extension auf verschiedene funktionale Domänen ist im oberdeutschen Raum am stärksten ausgeprägt, in der Schweiz hat das hochalemannische Schwyzerdütsch quasi nationalsprachlichen Status. Zuletzt hat Dialekt – immer im Gegensatz zur Standardsprache – eine immanente Komponente des sozialen Status und Prestiges und spielt im Deutschen selbst in die Verwendung der Standardsprache mit hinein, da Sprecher in der Regel stets areale Merkmale mit artikulieren, die auf die regionale Herkunft hinweisen (selbst bei Sprechern, die Deutsch im deutschen Sprachraum als Zweitsprache erlernt haben, vgl. „Kiezdeutsch“; diese Besonderheit des Deutschen macht sich auch die forensische Linguistik zunutze); frei von arealen Merkmalen ist lediglich die medial (teilweise) realisierte deutsche „Bühnenaussprache“ (Theodor Siebs).

Die Dialekte des Deutschen

Als Hauptkriterium zur Differenzierung von Dialekten in Opposition zur Standard-, Dachvarietät/Schriftsprache (Standardsprache) einer gegebenen Sprache wird traditionell die Lautlehre (Phonetik/Phonologie) herangezogen. Für die deutschen Dialekte ist eines der Haupteinteilungskriterien das diachronische Phänomen der Zweiten (Hochdeutschen) Lautverschiebung (2. LV), die die Herauslösung des Deutschen aus dem Verbund des Westgermanischen markiert; der Grad der Durchführung dieser 2. LV dient der Unterteilung in oberdeutsche (obd., vollständig), mitteldeutsche (md., teilweise) und niederdeutsche (nd., nicht verschobene) Dialekte. Der ober- und der mitteldeutsche Sprachraum werden auch zum Hochdeutschen (nicht zu verwechseln mit der gleichlautenden Bezeichnung für die dt. Standardsprache) zusammengefasst. Die 2. LV betrifft im Bereich des Konsonantismus die Reihe der Verschlusslaute /p-t-k/, welche oberdeutsch und teilweise mitteldeutsch zu Reibelauten beziehungsweise Affrikaten (koartikulierten Doppelkonsonanten) werden. Es sind dadurch charakteristische Reihen wie obd. (zugleich standardd.) Pfeffer – md. Peffer – nd. Peper; hd., md. Apfel – md. nd. Appel; obd. md. Zeit – nd. Tid entstanden. Im Bereich des Westmitteldeutschen ist durch die von Süd nach Nord gestaffelte teilweise Durchführung der 2. LV das areallinguistische Unikum des „Rheinischen Fächers“ entstanden. Neben der 2. LV beruht die lautliche und morphologische Vielfalt der deutschen Dialekte auf differenzierenden Merkmalen im Vokalbereich, wobei im späten Mittelalter entstandene Monophthongierungen und Diphthongierungen in einzelnen Dialekten nicht aufgetreten sind (z. B. bairisch: liab-guat-muader gegenüber standardd. lieb (als Monophthong artikuliert)-gut-Mutter; schweiz. min-hus gegenüber standardd. mein-haus); hinzu kommt im Konsonantismus die sogenannte binnendeutsche Konsonantenschwächung.

Der deutsche Dialektraum ist entstanden aus den frühmittelalterlichen Reichsbildungen durch Zusammenschluss verschiedener germanischer Stämme und Großformationen (Franken, Sachsen, Alemannen, Baiern etc.), die die Grundlage auch der heutigen Dialektlandschaft bilden, wobei die einzelnen Dialekte allerdings keinesfalls auf bestimmte Stämme direkt zurückgeführt werden können, da die eigentlichen dialektalen Merkmale erst nach deren Auflösung im fränkischen Reichsgebilde entstanden sind. So spiegeln die heutigen Dialektgrenzen die (für den deutschen Sprachraum kennzeichnenden z. T. sehr kleinteiligen) mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Territorialherrschaften. Die Ermittlung der Dialektgrenzen erfolgt durch die Messung der Reichweite dialektaler Merkmale (Isoglossen) und deren Bündelung. Je dicker ein Isoglossenbündel, desto klarer die Abgrenzung des Dialektraums. Wichtigste Isoglosse des deutschen Sprachraums ist die sog. „Benrather Linie“ (maken-machen), die das Ende der Reichweite der 2. LV markiert und das hochdeutsche vom niederdeutschen Sprachgebiet trennt.

Der Dialektraum um 1900 (vgl. Abb. 1) weist innerhalb der Großgliederung Oberdeutsch-Mitteldeutsch-Niederdeutsch folgende Binnengliederung auf: Das Oberdeutsche besteht aus dem Alemannischen (mit der Schweiz) im Westen und dem Bairischen im Osten (mit Österreich). Das Alemannische wird weiter unterteilt in ein Höchst- und Hochalemannisch im Schweizer Raum, ein Niederalemannisch zwischen Rhein und Donauquelle, das Elsässische auf linksrheinischem Gebiet und schließlich das Schwäbische zwischen Neckar und Lech. Das Bairische ist weiter untergliedert in Tirolisch im Südwesten, Südbairisch im Osten bis Graz, Mittelbairisch entlang des Donaulaufs, daran anschließend in Südböhmisch bei Budweis/České Budějovice und Südmährisch bei Brünn/Brno sowie ferner in Nordbairisch in der Oberpfalz und im östlichen Oberfranken. Als zentraler Keil befindet sich zwischen dem Oberdeutschen und dem Mitteldeutschen das Ostfränkische. Der mitteldeutsche Raum zerfällt in eine westliche und eine östliche Hälfte, getrennt durch die Fund-P(f)und-Isoglosse. Das Westmitteldeutsche besteht aus dem Mittelfränkischen (Ripuarisch, Moselfränkisch und Luxemburgisch) an Rhein und Mosel und dem Rheinfränkischen (Pfälzisch und Hessisch). Das Ostmitteldeutsche bildet einen Korridor mit dem Thüringischen im Westen an der Saale, dem Obersächsischen um Dresden (mit südlich anschließenden Erzgebirgisch, Nord- und Nordwestböhmisch), schließlich dem Schlesischen zwischen Oder und Lausitzer Neiße mit dem Neiderländischen am mittleren Oderlauf, dem Gebirgsschlesischen und dem Nordmährischen. Der niederdeutsche Sprachraum gliedert sich in einen westlichen Teil, bestehend aus dem Niederfränkischen (Niederrheinischen) nördlich von Köln, dem Westfälischen bis Detmold, dem Ostfälischen zwischen Weser und Aller und dem Nordniedersächsischen, und einen östlichen Teil, der das Mecklenburgisch-Vorpommersche an der Küste, von der Elbe bis zur Oder das Brandenburgische mit den märkischen Dialekten, jenseits der Oder das Ostpommersche, schließlich von Danzig/Gdańsk bis Königsberg/Kaliningrad in Ostpreußen das Niederpreußische umfasst.[6] Eine Enklave im niederdeutschen Sprachgebiet bildete das zum Mitteldeutschen gehörende Hochpreußische im südwestlichen Ostpreußen.

3. Deutsche Sprachinseldialekte und Siedlungsmundarten in Ostmittel- und Südosteuropa

Im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaus in der Germania Slavica (Deutsche Ostsiedlung) erweiterte sich der deutsche Sprachraum beträchtlich, insbesondere entlang der Ostsee bis ins Baltikum, nach Schlesien und in die Randgebiete Böhmens und Mährens.[7] Zudem entstanden inselartige Siedlungsformationen vor allem in Südosteuropa, in den Böhmischen Ländern und in Polen. Es folgten der frühneuzeitliche Landesausbau im Habsburgerreich und die Ansiedlung Deutscher im Russischen Reich.

In einer ersten Welle gelangten im Hochmittelalter deutsche Siedler in folgende Gebiete östlich von Elbe und Saale: (a) Böhmen, Mähren, Schlesien, Ostpommern, östliches Preußen sowie (b) Siebenbürgen, Zips, Gottschee und weitere Hospes-Siedlungen in Ungarn. In den unter (a) genannten Gebieten mit direkter Reichsanbindung entstanden so autochthone Mundarten (Böhmisch, Mährisch, Schlesisch, Ostpommerisch, Preußisch) auf nordbairisch-ostfränkischer (Böhmisch), thüringisch-sächsischer (Schlesisch) sowie niederdeutscher (Preußisch) Basis. In den unter (b) genannten Gebieten entstanden Sprachinseldialekte.

Die zweite Siedlungswelle diente der Wiederbevölkerung von Territorien in der Frühen Neuzeit nach den Türkenkriegen auf Initiative der habsburgischen Kaiser (Donauraum) und der russischen Zaren (Dnjepr-Wolga-Region). Von den Habsburgern wurden durch drei „Schwabenzüge“ (karolinisch 1718–1737, theresianisch 1749–1772, josephinisch 1782–1787) und kleinere Nachbesiedlungsaktionen (Sathmar, „Landler“ in Siebenbürgen) die Schwäbische Türkei, die Batschka, das Banat sowie Slawonien und Syrmien mit deutschen Einwanderern besiedelt. Die Siedler stammten vorwiegend aus dem westmitteldeutschen und westoberdeutschen Raum (Rhein- und Mainfranken, Lothringen, Elsass), aber auch aus dem Schwäbischen und Fränkischen, ferner aus Böhmen, Innerösterreich und dem heutigen Benelux-Raum. Auf dieser Grundlage entstanden vielfältige Mischdialekte vor allem auf mosel- und rheinfränkischer beziehungsweise oberdeutscher Grundlage.

Die russischen Zaren holten in drei Hauptschüben Siedler ins Zarenreich. Unter Katharina II. (1729–1796) wurden 1764–1767 104 Dörfer an der Wolga (um Saratow/Saratov) gegründet; ab 1792 entstanden Siedlungen in Wolhynien und im Schwarzmeergebiet (v. a. konfessionell bedingte MigrationMennoniten). In einem zweiten Schub unter Zar Alexander I. (1777–1825) wurden 1803–1823 Siedlungen in Bessarabien und Transkaukasien gegründet; 1830–1870 bildeten sich Sekundärkolonien von Siedlern aus Polen und Galizien in Wolhynien und nach 1890 Tochtersiedlungen im Ural, in Sibirien und in Turkestan. Ein letzter Schub führte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Siedler aus dem Schwarzmeergebiet und Bessarabien weiter in die damals zunächst unter türkischer, später rumänischer und bulgarischer Verwaltung stehende Dobrudscha sowie als Sekundärmigranten nach Übersee.

In Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa traten folglich Dialekte des Deutschen zum einen als Siedlungsmundarten mit nicht abgerissener Anbindung an den arealen Verbund der Dachsprache, zum anderen als Sprachinseldialekte, zum Teil mit Verlust der direkten Anbindung an die Dachsprache, auf. Diese Sprachinseln als Ergebnis von Migrationen spiegelten zum Teil die dialektale Herkunft der Siedlergruppen (z. B. einzelne österreichisch-bairische Ortsmundarten der Landler in Siebenbürgen), in anderen Fällen entstanden bei heterogener Herkunft durch Ausgleichsprozesse Mischmundarten (charakteristisch z. B. im Banat auf rheinfränkischer Grundlage), wobei ein bestimmter Dialekt die Grundlage bildete und aus allen zusammenkommenden Mundarten primäre („grob mundartliche“) Merkmale (Schibboleths) getilgt wurden. In allen deutschen Sprachenklaven im östlichen Europa ist als Grundtendenz der ausgleichende Abbau niederdeutscher Sprachmerkmale zu verzeichnen. Waren die Siedler hingegen homogenerer Herkunft, so konnten sich mitgebrachte Dialektmerkmale gut erhalten. Beispiel hierfür ist das Siebenbürgisch-Sächsische auf mosel- und rheinfränkischer (also westmitteldeutscher) Grundlage. In den am frühesten besiedelten Gebieten (Siebenbürgen, Zips, Gottschee) war der Erhaltungsgrad der Dialekte zudem durch das Fehlen einer Standardvarietät zum Zeitpunkt der Einwanderung erhöht. Kulturelle Faktoren (Schulwesen, Kirche/Konfessionalität, Kanzleisprachen) bedingten die Anbindung an den deutschen Sprachraum mit und begünstigten mitunter den Abbau von dialektalen Merkmalen. In den zum geschlossenen deutschen Sprachraum gehörenden Siedlungsmundarten blieb die Anbindung an die benachbarten Dialekträume deutlich erkennbar (z. B. Südböhmisch und Südmährisch ans Mittelbairische, Schlesisch als Dialektgruppe des Ostmitteldeutschen).

Durch Sprachkontakt mit anderen Ethnien ergaben sich Besonderheiten, die nicht in den Herkunftsdialekten vorhanden waren; vor allem auf lexikalischer Ebene kam es zu zahlreichen Entlehnungen aus den Umgebungssprachen, wie auch die Kontaktsprachen deutsche Elemente aufnahmen.[8] Sprachliche Isolation hemmt die Übernahme gesamtsprachlicher und dialektaler Wandlungsprozesse; nach der Abwanderung erfolgte Veränderungen der Herkunftsdialekte werden nicht mitgemacht. Darauf fußt die Annahme, dass Sprachinseln eine bewahrende, konservierende Wirkung auf die Sprachinseldialekte haben. Die Gesamtzahl der verbliebenen Sprecher wird angegeben für das heutige Polen mit 150.000 (vor allem in Schlesien), Tschechien 30.000 (im ehemaligen Sudetenland), Slowakei und Slowenien zusammen 7.000, Ungarn 35.000, Rumänien 45.000, die Ukraine 35.000, den europäischen Teil Russlands mit 75.000.[9]

Muttersprache, insbesondere in Form des Dialekts, ist ein identitätsstiftendes Merkmal und hat in den Sprachminderheitengebieten eine gemeinschaftsbildende Funktion. Gleichzeitig hat dialektales Sprechen eine identifizierende Wirkung, die beispielsweise in den Nachkriegsjahren zur Stigmatisierung der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik und der DDR beitrug. Die Neuansiedlung der Vertriebenen und im Folgenden der Spätaussiedler in den alliierten Besatzungszonen beziehungsweise den beiden deutschen Staaten führte auch zur Gründung von Erinnerungsgemeinschaften, die sich bemühten, mit der Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes auch die angestammten Dialekte und die Dialektliteratur zu pflegen.

Durch Aussiedlungspolitik (Spätaussiedler) und nach der Wende Anfang der 1990er Jahre durch verstärkte Migration oder durch Assimilation (Ungarn) befinden sich auch die gegenwärtig verbliebenen Sprachinselgemeinschaften in Auflösung, andererseits gibt es im Kleinen auch Konsolidierungsphänomene wie beispielsweise in Rumänien.

Die wissenschaftliche Erschließung vor allem der Sprachinseldialekte bleibt eine Aufgabe: Das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch und das Sudetendeutsche Wörterbuch beispielsweise sind noch in Bearbeitung, vom Wörterbuch der Banatschwäbischen Mundarten ist erst kürzlich der erste Band erschienen. Da die Dialekte Teil des kulturellen Erbes der Deutschen im östlichen Europa sind, erfahren solche Projekte Förderung durch die Bundesregierung (§ 96 des Bundesvertriebenengesetzes).

4. Slawische Sprachinseln im geschlossenen deutschen Sprachgebiet

Während der Ostsiedlung entstanden umgekehrt durch die Vergrößerung des deutschen Sprachraums slawische Sprachinseln im geschlossenen deutschen Sprachgebiet. Neben der bekanntesten, dem bis heute erhaltenen Sorbischen (Ober- und Niedersorbisch in der Lausitz), das gemeinsam mit dem in Holstein, Mecklenburg und weiteren Gebieten (bis ins 18. Jh. im Wendland) verbreiteten ausgestorbenen Polabischen auch als Wendisch bezeichnet wird, gab es weitere westslawische Sprachinseln: im südlichen Ostpreußen das gemeinhin als polnischer Dialekt angesehene und als ausgestorben geltende Masurische (gesprochen von aus Masowien zugewanderten evangelischen Polen); das noch existente, aber als gefährdet eingestufte Kaschubische westlich von Danzig/Gdańsk, das in Polen als Dialekt galt, neuerdings aber den Status einer Minderheitensprache hat und mit dem Polabischen und dem ebenfalls ausgestorbenen Pomoranischen die Gruppe des Elb-Ostsee-Slawischen bildet. Über das in Teilen Südwestpolens (Oberschlesien) und Tschechiens (ehemals Österreichisch-Schlesien) von knapp einer halben Million Sprechern gesprochene Schlonsakische („Wasserpolnisch“, Dialekt śląski) herrscht Uneinigkeit, ob es ein polnischer Dialekt oder eine eigene Sprache ist; auch dem Mährischen als Dialekt des Tschechischen kann sprachstrukturell betrachtet nicht uneingeschränkt der Status einer eigenständigen Sprache zugesprochen werden.

Ebenso waren baltische Sprachen auf dem Gebiet Ostpreußens vertreten, so das nicht sicher als ost- oder westbaltisch zu klassifizierende Altkurische, das Nehrungskurische (ein lettischer Dialekt mit litauischen und niederdeutschen Merkmalen), das für die Gesamtentwicklung der litauischen Sprache wichtige Kleinlitauische und das im 17. Jahrhundert ausgestorbene, in zwei Dialektgruppen (Samländisch und Pomesanisch) gespaltene Altpreußische.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Hadumod Bussmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Stuttgart 1990.
  • Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke, Herbert E. Wiegand (Hg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Berlin, New York (1. Halbbd.) 1982, (2. Halbbd.) 1983. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft [=HSK] 1.1, 1.2).
  • Ludwig M. Eichinger, Albrecht Plewnia, Claudia Maria Riehl(Hg.): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen 2008.
  • Jan Goossens: Deutsche Dialektologie. Berlin, New York 1977 (Sammlung Göschen 2205).
  • Karl Heinz Göttert: Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte. Berlin 2011.
  • Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. 14. Aufl. München 2004.
  • Hermann Niebaum, Jürgen Macha: Einführung in die Dialektologie des Deutschen. Tübingen 1999.
  • Helmut Protze: Zur Erforschung deutscher Sprachinseln in Südost- und Osteuropa. Siedlung, Sprache, Geschichte und Wechselwirkungen. In: Gerhard Grimm, Krista Zach (Hg.): Die Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa. Bd. 1. München 1995, S. 55–84.
  • Ernst Schwarz: Die deutschen Mundarten. Göttingen 1950.
  • Peter Wiesinger: Die deutschen Sprachinseln. In: Hans Peter Althaus, Helmut Henne, H.E. Wiegand (Hg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik [= LGL]. 2. Aufl. Tübingen 1980, S. 491–500.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Vgl. die Wortkarten in König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 185–228.

[2] Innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft werden „Dialekt“ und „Mundart“ weitgehend synonym gebraucht, so auch in dieser Darstellung, obwohl es seit Jacob Grimm verschiedene Differenzierungsversuche gab. Vgl. Goossens: Deutsche Dialektologie, S. 16ff.; Niebaum, Macha: Dialektologie, S. 3f.; zu „Platt“ vgl. Niebaum, Macha: Dialektologie, S. 4.

[3] In der historischen Sprachwissenschaft (Diachrone Linguistik) werden auch Zweige sowie Mitglieder einer Sprachfamilie als Dialekte bezeichnet, zum Beispiel: „Altsächsisch ist ein westgermanischer Dialekt“. Diese terminologische Verwendung muss abgegrenzt werden von der in diesem Artikel besprochenen Verwendung in der synchronen Sprachwissenschaft, die sich im Wesentlichen mit der allgemeinsprachlichen Verwendung deckt.

[4] Eine Übersicht der großlandschaftlichen Dialektwörterbücher bei König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 138.

[5] Zur Beschreibung dieses Kontinuums der Sprechweisen oder Sprachschichten („Strata“) gibt es verschiedene Beschreibungsmodelle. Vgl. Niebaum, Macha: Dialektologie, S. 7.

[6] Nach der Dialektkarte des deutschen Sprachraums um 1900 bei König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 230f.

[7] Vgl. Kartendarstellungen zur Ostsiedlung bei König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 74.

[8] So gibt es etwa im Rumänischen zahlreiche deutsche Lehnwörter, die direkt über das Siebenbürgisch-Sächsische vermittelt wurden, zum Beispiel șură „Scheune“ ist in seiner mittelalterlichen beziehungsweise dialektalen Lautform (vgl. mhd. schiure) entlehnt worden, vgl. auch das Lehnwortportal Deutsch und das Wörterbuch der Herkunftswörter vom Institut für Deutsche Sprache: URL: lwp.ids-mannheim.de (Abruf 16.09.2014).

[9] Vgl. Göttert: Alles außer Hochdeutsch, S. 203; zumindest für Rumänien ist diese Zahl nicht mehr aktuell, in der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2011 wurden 27.019 Personen mit deutscher Muttersprache gezählt, vgl. Zensus des Nationalen Amts für Statistik aus dem Jahr 2011: www.recensamantromania.ro/wp-content/uploads/2012/08/TS5.pdf (Abruf 16.09.2014).

Zitation

Thomas Schares: Dialekt. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32834 (Stand 25.02.2015).

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