Lettgallen (Polnisch-Livland, Inflantien)
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Lettgallen
Anderssprachige Bezeichnungen
lett. Latgale, lettgall. Latgola, russ. Latgalija/Latgale, poln. Łatgalia, historisch auch Inflanty, lit. Latgala, Latein Lettgallia
Etymologie
Der Name (Letgola) wird erstmals in der altostslawischen „Erzählung vergangener Jahre“ (Nestorchronik, entstanden 1113–1118) mit Bezug auf eine baltische Bevölkerungsgruppe in der Nähe zur Ostsee, die dort während des 11. Jahrhunderts siedelte, erwähnt. In der Chronik Heinrichs von Lettland aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden die lateinischen Begriffe Lethi und Lethigalli synonym gebraucht („Lethos, qui proprie dicitur Lethigalli“) und bezeichnen die Bevölkerung der baltischen Herrschaftsverbände Jersika, Tālava, Atzele und Koknese im Osten des heutigen Lettlands. Während sich im Lateinischen und im Deutschen mit der Livländischen Reimchronik (spätes 13. Jahrhundert) der Begriff Lethi/Letten durchsetzte, benutzte die erste Novgoroder Chronik aus dem 14. Jahrhundert noch den Begriff Latygola. Der Wortstamm ‚Let’ oder ‚Lat’ könnte mit dem litauischen Fluss Latava zusammenhängen.
2. Geographie
Lage
Allgemein versteht man unter Lettgallen die historisch-kulturell definierte Region im Osten Lettlands, die im Süden durch die Düna (lett. Daugava), im Westen/Nordwesten durch die Flüsse Ewst/Awex (lett. Aiviekste) und Pededze und im Osten durch die Grenzen zu Russland und Belarus/Weißrussland abgeschlossen ist.
Aus pragmatischen Gründen zählt verwaltungstechnisch gesehen die historisch zu Semgallen gehörende schmale Region zwischen dem historischen Lettgallen und Litauen – die Region Ilūkste – jedoch ebenfalls zu Lettgallen, sodass es gegenwärtig ein kulturhistorisches Lettgallen und eine etwas größere Verwaltungseinheit Lettgallen gibt.
Das kulturhistorische Lettgallen umfasst eine Fläche von 14.546 Quadratkilometern. Die Verwaltungseinheit Lettgallen umfasst eine Fläche von 16.423 Quadratkilometern mit 255.968 Einwohnerinnen und Einwohnern (2020).
Topographie
Lettgallen ist als „Land der blauen Seen“ für seine zahlreichen Seen bekannt. Von den etwa 1.000 Seen sind der Rāzna-See und der Lubān-See die bekanntesten und größten. Außerdem gibt es viele Sümpfe und Torfmoore. Etwa 30 Prozent der Fläche ist bewaldet. Im Zentrum und im Osten befindet sich das hügelige Lettgaller Hochland, das mit dem Großen Lindenberg (lett. Lielais Liepukalns) eine Höhe von 289,8 m erreicht, was die drittgrößte Erhebung Lettlands ist.
Die größte Stadt der Region ist Dünaburg/Daugavpils (ca. 82.000 Einwohner). Heimliche Hauptstadt in kultureller Hinsicht ist jedoch die im Zentrum der Region gelegene zweitgrößte Stadt Rositten/Rēzekne (ca. 28.000 Einwohner). Weitere Kleinstädte mit weniger als 10.000 Einwohnern sind Ludsen/Ludza, Aglohn/Aglona, Bolwen/Balvi, Karsau/Kārsava, Kreslau/Krāslava, Prely/Preiļi und Rosenau/Zīlupe.
Historische Geographie
Grundsätzlich ist zwischen einem mittelalterlichen und einem modernen Lettgallen zu unterscheiden. Im mittelalterlichen Kontext bezog sich der Begriff zum einen auf das Siedlungsgebiet der Lettgaller, das ein sehr viel größeres Gebiet als das gegenwärtige Lettgallen umfasste und sich sowohl deutlich weiter nach Westen, in das heutige Vidzeme (Livland), als auch nach Osten, in heute belarussisches und russisches Gebiet hinein erstreckte. Daneben bezeichnete der in altslawischen Quellen verwendete Begriff „Latgola/Letgola“ auch einen kleineren Herrschaftsverband, der einen Teil des heutigen Lettgallens zuzüglich belarussischer Gebiete umfasste. Die östliche Grenze wurde durch die Aufteilung dieses Gebietes 1264 zwischen dem Deutschen Orden und dem Fürstentum Polozk markiert.
Die westliche Grenze des modernen Lettgallens geht auf das Jahr 1629 zurück, als Polen-Litauen das Gebiet westlich der Ewst an Schweden abtreten musste und sich somit die historische Region Lettgallen herausbildete, auch wenn sie unter polnischer Herrschaft mit Inflanty bezeichnet wurde und der Name Lettgallen/Latgale erst im Zuge der Nationalbewegung um 1900 wieder in Gebrauch kam. Unter russischer Herrschaft wurde die Region ab 1772 nicht wieder mit den russischen Ostseeprovinzen vereinigt, sondern in innerrussische Gouvernements integriert.
Nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1918/20 wurde Lettgallen mit den anderen von Letten bewohnten Gebieten in der Republik Lettland vereint. Hinzu kam im Nordosten ein kleiner zusätzlicher Gebietsstreifen um die heute wieder russische Stadt Pytalovo (lett. Abrene/Jaunlatgale), welcher nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion abgetreten werden musste und auch nach 1991 bei Russland verblieb. Auf der anderen Seite kam aber nach 1991 der kleine Landstrich zwischen Lettgallen und Litauen, welcher historisch zu Semgallen gehört, in administrativer Hinsicht zu Lettgallen hinzu. Kulturhistorisch wird er aber nicht der Region Lettgallen zugerechnet.
3. Geschichte und Kultur
Gebräuchliche Symbolik
Das Wappen Lettgallens zeigt einen silbernen Greif mit einem Schwert in der rechten Klaue auf blauem Grund.
Daneben existiert seit etwa 2010 eine inoffizielle Flagge, die aus dunkelblau-weiß-dunkelblauen Streifen besteht, die, wie die lettische Flagge, im Verhältnis 2–1–2 angeordnet sind. Im Vordergrund ist das Wappen des frühneuzeitlichen Polnischen Livlands zu erkennen, das wiederum einen bewaffneten Greif (diesmal nach links blickend) auf rotem Grund zeigt und das auf das polnisch-litauische Adelsgeschlecht Chodkiewicz zurückgeht.
Beinamen
Da der Name Lettgallen in der Frühen Neuzeit nicht in Gebrauch und die Region unter polnisch-litauischer Herrschaft war, ist Inflanty, abgeleitet von Polnisch-Livland (Kurzform von Województwo inflanckie/Woiwodschaft Livland), ein historisch bedeutsamer Alternativbegriff, der aber in der Alltagssprache keine Relevanz mehr besitzt.
Die Bewohner Lettgallens werden von den Letten jenseits der Region freundschaftlich-spöttisch als Čangaļi (wahrscheinlich von Čanga: umgangssprachlich eine Person, die Speisen durcheinanderrührt) bezeichnet. Umgekehrt wird der Name Čiuļi (wahrscheinlich von Ķūlis: eine grobe, seltsame und ungeschickte Person) in gleicher Intention für die Mehrheitsletten jenseits von Lettgallen gebraucht.
Vor- und Frühgeschichte
Die ältesten Spuren sesshafter Lebensweise auf dem Gebiet Lettgallens finden sich im Raum des Lubān-Sees und gehören der Kunda-Kultur (ca. 8000–5000 v. Chr.) an. Daran schloss sich die Narva-Kultur (ca. 5000–3000 v. Chr.) an, von der ebenfalls um den Lubān-See Siedlungsreste nachweisbar sind. Auch die Kammkeramik-Kultur (ca. 4000–2000 v. Chr.) lässt sich in diesem Raum nachweisen und wird häufig in Verbindung gebracht mit der Zuwanderung finnougrischer Bevölkerung. Doch kam diese möglicherweise auch erst später in die Region.
Zwischen dem fünften und siebten Jahrhundert n. Chr. verdrängten die aus dem Süden kommenden baltischen Stämme die finnougrische Bevölkerung nach Norden und Westen, sodass im östlichen und nördlichen Teil des heutigen Lettlands baltische Stämme sesshaft wurden, die in russischen Quellen aus dem 11. und 12. Jahrhundert erstmals als Lettgaller bezeichnet wurden, was namensgebend sowohl für Lettgallen als auch für Lettland und die Letten wurde. Die lettgallischen Stämme bildeten vor 1200 verschiedene Herrschaftsverbände, Jersika nördlich der Düna und Tālava in der Nähe des heutigen Estland war davon der größte und mächtigste. Für den Herrscher von Jersika Visvaldis (?–1230), der zur Zeit der Kämpfe mit den deutschen Kreuzrittern herrschte, ist sogar der Königstitel durch den Chronisten Heinrich von Lettland überliefert. Teilweise bestanden Abhängigkeitsverhältnisse zum Fürstentum Polozk, von wo aus auch Missionierungsversuche der Orthodoxen Kirche unternommen wurden.
Mittelalter
In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kämpften deutsche Kreuzritter, das Fürstentum Polozk, Litauen und Jersika sowie einige kleinere lettgallische Herrschaftsverbände in wechselnden Bündnissen um die Oberhoheit in der Region, was mit einem Sieg des Deutschen Ordens endete, wodurch die Region Teil der Livländischen Konföderation wurde. Zur Festigung der Herrschaft des Deutschen Ordens wurden Ordensburgen in Wolkenburg (1263) in der Nähe des Rāzna-Sees, Alt-Dünaburg (1275) und Rositten (1285) errichtet. Im Zuge fortgesetzter Grenzstreitigkeiten und kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Orden, Litauen und Novgorod im 14. Jahrhundert, die auch durch innere Konflikte zwischen dem Erzbischof von Riga und dem Deutschen Orden geprägt waren, kam die Ordensburg in Ludsen zur besseren Verteidigung und Kontrolle Ende des 14. Jahrhunderts noch hinzu. Nach einer Eroberung und Zerstörung der Ordensburgen durch den Großfürsten von Moskau Ivan III. (1440–1505) zum Ende des 15. Jahrhunderts und einer für den Orden siegreichen Schlacht am Smolinasee des Ordensmeisters Wolter von Plettenberg (1450–1535) unweit des nördlichen Lettgallens 1502 wurde eine weitere Festung zur Verteidigung gegen das Fürstentum Moskau in Marienhausen/Viļaki errichtet, die allerdings nicht auf Ordensgebiet stand, sondern dem Erzbistum Riga angehörte.
Neuzeit
Der Livländische Krieg hatte verheerende Auswirkungen auf die Region. Alt-Dünaburg wurde während der russischen Eroberung durch Zar Ivan IV. (1530–1584) vollkommen zerstört und etwa 20 Kilometer flussabwärts neu gegründet. Dort befindet sich die Stadt noch heute. Die russischen Truppen mussten zum Ende des Krieges abziehen und Lettgallen wurde Teil des unter polnisch-litauischer Herrschaft stehenden Herzogtums Livland (poln. Księstwo Inflanckie oder Księstwo Zadźwińskie), das auch das heutige Vidzeme und südestnische Gebiete umfasste. Erster Statthalter mit Sitz im heute lettischen Segewold/Sigulda wurde Jan Hieronimowicz Chodkiewicz (1530–1579). Diese Gebiete verlor Polen-Litauen allerdings schon 1621 wieder an Schweden, sodass nur das heutige Lettgallen als Woiwodschaft Livland als Kondominium bei Polen-Litauen verblieb. Sitz des Woiwoden wurde Dünaburg, das durch den polnischen König Stefan Batory (1533–1586) 1582 Magdeburger Stadtrecht erhalten hatte. Während des zweiten Nordischen Kriegs (1655–1661) zerstörten die Schweden die Burg in Rositten und die Russen besetzten den südlichen und zentralen Teil Lettgallens zwischen 1656 und 1667 und benannten Dünaburg während dieser Zeit in Borisoglebsk um, mussten aber in Folge des Friedens von Andrusovo wieder abziehen.
Während des Großen Nordischen Krieges forderte die Pest 1710 eine erhebliche Opferzahl, aber Polnisch-Livland verblieb trotz russischer Eroberungen bei Polen-Litauen. Eine Besonderheit der polnisch-litauischen Zeit war die Polonisierung der vormals deutschsprachigen Adligen der Region. Familien wie die Manteuffels, Platers, Borchs, Hilsens, Tiesenhausens und Weißenhofs erlangten auch überregional im polnisch-litauischen Staat politische Bedeutung. Neben der Polonisierung des deutschsprachigen Adels bewirkte die Zugehörigkeit zu Polen-Litauen auch eine Zuwanderung jüdischer Bevölkerung, die kulturell dem litauischen Judentum – den sogenannten ‚Litwaken’ – nahestand. Die Nähe zu Russland bewirkte darüber hinaus, dass russische Emigrantinnen und Emigranten, die die Kirchenreform der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mittrugen, auf dem Gebiet Lettgallens Schutz suchten.
Nach der Integration in das Russische Reich infolge der Teilungen Polen-Litauens verstärkte sich ab 1772 der Zuzug russischer Bevölkerung, nicht zuletzt da Dünaburg, ab 1893 offiziell russisch als Dvinsk bezeichnet, zur Garnisonsstadt der russischen Armee wurde. Hier wurde Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Bau einer bedeutenden Zitadelle begonnen, die im Kampf gegen Napoleon bereits unmittelbar militärisch genutzt wurde und strategische Bedeutung erlangte, allerdings bei ihrer eigentlichen Fertigstellung 1878 militärtechnisch schon veraltet war. Neben dem Zuzug von russischen Soldaten führte der Bau der Zitadelle auch eine Reihe von deutschsprachigen Offizieren oder Bauingenieuren nach Dünaburg. Konzipiert wurde sie von Johann Friedrich Heckel (1764–1832). Einer seiner Nachfolger als leitender Ingenieur der Festung, Nikolai Hagelstrom (1812–1883), wurde später zum Bürgermeister der Stadt (1865–1870, 1874–1876) und zum Gründer des Stadttheaters. Auch die Festungskommandeure Georg Leonard Christoph von Richter (1778–1823), Gustav Helwig (1776–1855) und Rudolf Johann von Schulmann (1814–1874) sowie der Offizier und Architekt Alexander Staubert (1780–1843) erlangten regionale Bedeutung für die Stadtgeschichte. Den größten Einfluss aber hatte Karl Jacob Arvid Pfeffer (1847–1918), der von 1899 bis 1915 und damit so lange wie keine andere Person städtisches Oberhaupt von Dünaburg war.
Einen weiteren markanten Entwicklungsschub erlebte die Stadt durch den ab den 1850er Jahren intensivierten Bau der Eisenbahn, da sich in Dünaburg die Linien Warschau/Warszawa-St. Petersburg/Sankt-Peterburg und Riga/Rīga-Orel kreuzten und Anschluss an die Linie Libau/Liepāja-Romny in der heutigen Ukraine bestand. Infolge dessen siedelten sich eine Reihe von Industriebetrieben in der Stadt an.
Neben Dünaburg profitierte auch Rositten von dem Bau der Eisenbahnstrecke zwischen St. Petersburg und Warschau, erlebte aber nicht einen solch großen Entwicklungsschub wie Dünaburg. Überhaupt ging die Industrialisierung an der ländlichen Region Lettgallen weitgehend vorbei, sodass Lettgallen bis heute das Stigma der Rückständigkeit im Vergleich zum restlichen Lettland anhaftet. Dabei ist zu beachten, dass Lettgallen, anders als die anderen Gebiete Lettlands, nicht Teil der sogenannten Ostseeprovinzen war und somit keine gesonderten Privilegien innehatte, was vor allem bei der Aufhebung der Leibeigenschaft eine erhebliche Rolle spielte, die hier wie in anderen Gebieten des Russischen Reichs auch deutlich später als in den Ostseeprovinzen erst 1861 aufgehoben wurde. Dadurch begründete sich der vergleichsweise späte soziale Wandel der Region. Auch kulturell hatte die im 19. Jahrhundert entstehende lettische Nationalbewegung Probleme, nach Lettgallen auszustrahlen, da zum einen die Lesefähigkeit der Bevölkerung deutlich hinter der Entwicklung anderer Gebiete Lettlands zurückblieb, aber auch, da die jahrhundertelange administrative Trennung kulturelle Spuren hinterlassen hatte. So war Lettgallen auch von den polnischen Aufständen des 19. Jahrhunderts erfasst worden, was nach 1865 wie in anderen Gebieten Polens ein Druckverbot in lateinischen Buchstaben zur Folge hatte, das erst 1904 aufgehoben wurde und das die Entwicklung des Lettischen bzw. des Lettgallischen als Schriftsprache in der Region stark behinderte. Andererseits war Lettgallen auch Teil des sogenannten Jüdischen Ansiedlungsrayons, was die Entwicklung der jüdischen Kultur parallel zu den ehemals litauischen und polnischen Gebieten im Russischen Reich beförderte. Ein Beispiel dieser Art war die frühe Etablierung der jüdisch-sozialistischen Arbeiterpartei Bund in Dünaburg. Auch zionistische Strömungen konnten in Lettgallen vor dem Ersten Weltkrieg Rückhalt finden. Insbesondere Dünaburg wurde zum Zentrum jüdischer Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, wo zu diesem Zeitpunkt mehr als die Hälfte der Einwohner Juden waren.
Zeitgeschichte
Der Erste Weltkrieg machte Lettgallen nach dem Vormarsch der deutschen Truppen bis zur Düna 1915 zum unmittelbaren Frontgebiet und wirkte sich verheerend auf die vorher dynamische Stadtentwicklung von Dünaburg aus, dessen Bevölkerung auf unter 20.000 fiel. Kurz nach der Februarrevolution sprachen sich beim Ersten Lettischen Kongress Lettgallens in Rositten die Mehrheit der Delegierten für einen Zusammenschluss mit den anderen Regionen Lettlands aus, wobei ein Kongress der russischen Bevölkerung sich kurz darauf sich für den Verbleib im Gouvernement Vitebsk aussprach. Sozialistische Staatsgründungsversuche im Umfeld der Oktoberrevolution 1917 waren in Lettgallen zwar etwas langlebiger als in anderen lettischen Gebieten, doch ist das weniger auf eine höhere Affinität der Bevölkerung zum Sozialismus zurückzuführen als auf die militärische Unterstützung des benachbarten, unter der Herrschaft der Bolschewisten stehenden Russlands. Erst 1920 gelang es lettischen und polnischen Truppen, die Region zu erobern und mit den restlichen Gebieten Lettlands in der neuen parlamentarischen Republik zu vereinen. In der Folge gelang eine politische Integration der sehr heterogenen lettgallischen Parteienlandschaft in die junge Demokratie. Während der autoritären Herrschaft unter Kārlis Ulmanis (1877–1942) verstärkten sich ab 1934 die Bemühungen, Lettgallen auch kulturell mit dem lettischen Nationalstaat in Einklang zu bringen. Ausdruck dieser Politik sind das Haus der Einheit (Daugavpils Vienības nams) in Dünaburg, das Denkmal der Partisanenverbände Lettgallens im Unabhängigkeitskrieg von 1938 in Bolwen oder auch die imposante Skulptur „Vereint für Lettland“ in Rositten von 1939 sowie die zunehmend patriotischer inszenierten Sängerfeste, wie zuletzt das große im Juni 1940 in Dünaburg organisierte Lettgallen-Sängerfest kurz vor dem Verlust der Eigenstaatlichkeit.
Infolge des Hitler-Stalin-Paktes wurde Lettgallen zusammen mit Lettland zunächst 1940 Sozialistische Sowjetrepublik, doch schon 1941 von den Deutschen erobert und Teil des Generalkommissariats Lettland. Da der jüdische Bevölkerungsanteil in Lettgallen bedeutend höher war als in anderen Gebieten Lettlands, stellt der Holocaust hier in besonderer Weise einen Verlust der kulturellen Identität der Region dar. In Dünaburg existierte bis Anfang 1943 ein jüdisches Ghetto im südlich der Düna gelegenen Teil der Festung. Umstritten ist das Ausmaß der Kollaboration der nicht-jüdischen Bevölkerung beim Holocaust in Lettgallen.[1]
Nationalsozialistische Terrormaßnahmen richteten sich auch gegen andere Bevölkerungsgruppen Lettgallens. So wurden die altgläubigen Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes Audriņi bei Rositten vollständig Anfang des Jahres 1942 als Vergeltungsmaßnahme umgebracht. Auch die Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt in Aglohn wurden durch die deutschen Besatzer allesamt ermordet. Auf der anderen Seite versuchten die deutschen Besatzungsbehörden, die russischsprachige Bevölkerung für eine Kollaboration zu gewinnen, indem sie russische Polizeieinheiten in deutschen Diensten gründeten. Dennoch waren die antideutschen Partisanen in Lettgallen mehrheitlich russischsprachig. Im Zuge der Sommeroffensive der Roten Armee 1944 gelangte Lettgallen unter sowjetische Herrschaft und war anschließend, wie andere Gebiete Lettlands auch, von sowjetischen Deportations- und Terrormaßnahmen betroffen. Dagegen wehrten sich die sogenannten Waldbrüder, bewaffnete antisowjetische Widerstandskämpfer, jedoch langfristig ohne Erfolg. Durch die forcierte Industrialisierung kamen im Laufe der Jahrzehnte erneut viele russischsprachige Personen nach Lettgallen und nicht zuletzt in die wieder schnell wachsende Stadt Dünaburg, wo Russisch zur beherrschenden Alltagssprache wurde. Dessen ungeachtet stimmte auch hier eine Mehrheit der Wahlberechtigten im März 1991 für die Wiedererrichtung eines unabhängigen Lettlands.
Verwaltung
Im Mittelalter war Lettgallen in die Komturei Dünaburg im Süden, die Vogtei Rositten im Zentrum, die beide zum Ordensland gehörten, und in ein zum Erzbistum Riga gehörendes Gebiet um Marienhausen/Viļaka im Norden unterteilt. Im Herzogtum Livland gehörte die Region zur Woiwodschaft Wenden/Cēsis, bevor sie nach 1621 eine eigene Woiwodschaft bildete. Darunter war die Woiwodschaft geteilt in vier Kreise (poln. trakt), nämlich Dünaburg, Rositten, Ludsen und Marienhausen. Unter russischer Herrschaft war das Gebiet zunächst bis 1776 Teil des Pleskauer Gouvernements, von 1777 bis 1796 dann des Polozker Gouvernements, zwischen 1796 bis 1802 des Belarussischen Gouvernements und ab 1802 bis zum Ende des Russischen Reiches des Vitebsker Gouvernements. Untergliedert war die Region während dieser Zeit in die Kreise (russ. uezdy) Dünaburg, Rositten, Ludsen. Ab 1924 war die Region (lett. apgabals) Latgale in vier Kreise (lett. apriņki) untergliedert, und zwar Dünaburg, Rositten, Ludsen und Abrene. Gegenwärtig ist die Region in etwa 19 kleinere Kreise (lett. novadi) einschließlich des südlich der Düna gelegenen Kreises Ilūkste unterteilt.
Bevölkerung
Spätestens seit der Zugehörigkeit zu Polen-Litauen zeichnet sich die Region durch eine ausgeprägte ethnische Vielfalt aus.
Die Bevölkerungszahl wuchs bis zum Ersten Weltkrieg rapide auf über 115.000 Einwohnerinnen und Einwohner an, erreichte also eine höhere Zahl als heutzutage. Zusammen mit den etwa 15.000 Einwohnern des südlich der Düna gelegenen Dünaburger Stadtteils Grīva, der erst 1953 eingemeindet wurde und wo der berühmte lettische Nationaldichter Jānis Rainis (1865–1929) zwischen 1875 und 1879 das deutsche Gymnasium besuchte, war das sogar der höchste Wert der Stadtgeschichte überhaupt. Auch an der Industrialisierung der Stadt hatten Deutsche einen erheblichen Anteil. Um 1900 lebten mit 11.000 Deutschen mehr als sechsmal so viele Deutsche wie Letten in der Stadt.
Diese Entwicklung hatte zum Ende der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreicht, als die lettische/lettgallische Bevölkerung keine Mehrheit mehr in der Region hatte.
Andererseits ging die Gesamtzahl der Bevölkerung seit 1989 kontinuierlich zurück von über 400.000 Einwohnern auf etwa 250.000 im Jahre 2020. Parallel hierzu erhöhte sich der Anteil der Letten/Lettgaller.
Wirtschaft
Die rückläufigen Bevölkerungszahlen spiegeln die Probleme der Wirtschaft in Lettgallen wider, das vor allem unter seiner peripheren Lage zu leiden hat. War der Aufschwung der Industriestadt Dünaburg am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem der guten Eisenbahnanbindung der Stadt geschuldet, so ist der Eisenbahnverkehr dort heutzutage vergleichsweise unbedeutend. Moderne Projekte wie ‚Baltic Rail’ gehen an der Region Lettgallen vorbei. Auch die jahrelangen und ergebnislosen Diskussionen zur Nutzung des brachliegenden Flughafens in Dünaburg verdeutlichen das Problem der Anbindung der Region. Um den Abbau der Industriebetriebe seit 1989 in einen positiven Strukturwandel umzugestalten, ist man im Gegenzug bemüht, einen modernen nachhaltigen, auf die Naturerfahrung zugeschnittenen Tourismus zu entwickeln. Außerdem wurde zur besseren Koordination und zur Erzeugung von Synergieeffekten 2017 die Sonderwirtschaftszone Lettgallen ins Leben gerufen.
Militärgeschichte
Die Region ist immer wieder Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen der regionalen Großmächte geworden. Wichtige Einschnitte bildeten die Eroberung durch die deutschen Ordensritter im 13. Jahrhundert, die auch mit der Errichtung der ersten Festungen einherging, aus denen sich die noch heute bedeutsamen urbanen Zentren entwickelten, sowie die Epoche der Nordischen Kriege zwischen Schweden, Polen-Litauen und Russland. Weiter wirkten sich die Kriegshandlungen sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkrieges verheerend auf die Region aus. Bedeutendste Garnisonsstadt war Dünaburg mit seiner im 19. Jahrhundert errichteten Festung.
Gesellschaft
Die Region ist vor allem durch ihre ethnische Vielfalt geprägt, die auf ihre wechselnden Zugehörigkeiten zurückzuführen ist. Dies gilt insbesondere für den polnischen Einfluss in der Frühen Neuzeit sowie die stärkere ‚Russifizierung’ im 19. und 20. Jahrhundert. Aus deutscher Sicht ist bemerkenswert, dass der deutschbaltische Adel sich in der frühen Neuzeit polonisierte, andererseits aber vor allem in Dünaburg eine Vielzahl von Deutschen bei der Industrialisierung aktiv mitwirkte, was in der deutschbaltischen Geschichtsschreibung eher vernachlässigt wurde. Weiter ist die Region durch einen Gegensatz von Dünaburg zu den ländlichen Gebieten geprägt. Durch die schnelle Industrialisierung Dünaburgs waren hier sozialistische Ideen verbreiteter, während auf dem Land konservative und religiöse Ansichten verankert waren. Auch die ethnische Zusammensetzung nahm unterschiedliche Entwicklungslinien. Während in Dünaburg im späten 19. Jahrhundert der jüdische Bevölkerungsanteil überdurchschnittlich hoch war und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart überdurchschnittlich viele Russen in der Stadt lebten, dominierten die Letten/Lettgaller im ländlichen Bereich.
Religions- und Kirchengeschichte
Parallel zur Multiethnizität ist die Region auch von einer ausgebildeten Multikonfessionalität und Multireligiosität geprägt. Im Vergleich zu anderen Gebieten Lettlands fällt hier vor allem der katholische Glaube der lettgallischen Bevölkerung auf, der auf die polnische-litauische Zeit zurückgeht und von kurzzeitigen Erfolgen der protestantischen Reformation abgesehen bis heute dominierend ist. Weiter kamen zur polnisch-litauischen Zeit viele Juden und Altgläubige in die Region. Schließlich gelangten unter russischer Herrschaft orthodoxe Russen, aber auch protestantische Deutsche nach Lettgallen. Der Kirchenhügel im Zentrum Dünaburgs, wo auf engstem Raum eine protestantische, eine katholische, eine orthodoxe und eine Kirche der Altgläubigen nebeneinanderstehen, repräsentiert diese Vielfalt exemplarisch. Die sowjetische Periode hatte die Verbreitung atheistischer Tendenzen zur Folge.
Besondere kulturelle Institutionen / Bildung und Wissenschaft
Kulturelle Zentren sind die beiden Städte Dünaburg und Rositten. Hier befinden sich auch die beiden Hochschulen der Region – die Universität Dünaburg (Daugavpils Universitāte) mit etwa 4.000 Studierenden und die Technologieakademie Rositten (Rēzeknes Technoloģiju akadēmija, vormals Hochschule Rositten) mit ca. 2.000 Studierenden. Beide gehen auf Gründungen Pädagogischer Hochschulen der Zwischenkriegszeit zurück. Dünaburg ist aufgrund seiner Randlage, seiner Größe und seiner industriegeschichtlich geprägten Geschichte weniger repräsentativ für die Region als Rositten. Entsprechend befindet sich in Dünaburg nur ein stadtgeschichtlich-kunsthistorisches Museum (Daugavpils Novadpētniecības un mākslas muzejs), das allerdings immerhin auf eine Gründung von 1938 zurückgeht, während in Rositten ein größeres und moderneres regionalgeschichtliches Museum über die Kultur und Geschichte Lettgallens (Latgales Kultūrvēstures muzejs) informiert. Auch das 2013 eröffnete multifunktionale Kulturzentrum (Latgales vēstniecības gors) mit einer Konzerthalle mit 1.000 Sitzplätzen und vielen weiteren Räumlichkeiten unterstreicht die Funktion Rosittens als kulturelles Zentrum Lettgallens ebenso wie die 2015 eröffnete hochmoderne Zentralbibliothek der Stadt.
Auf der anderen Seite kann Dünaburg auf seine überregionale kulturelle Bedeutung anhand des 2013 eröffneten Mark Rothko Kunstzentrums (Daugavpils Marka Rotko mākslas centrs) in der Festung verweisen, dessen Namensgeber (1903–1970) Anfang des 20. Jahrhunderts seine ersten zehn Lebensjahre in der Stadt verbracht hatte. Über den breiteren Kontext der jüdischen Stadtgeschichte informiert ein kleines Jüdisches Museum. Bibliothek und Theater sind im Haus der Einheit aus der Zwischenkriegszeit untergebracht.
Das kulturelle Leben Lettgallens jenseits der beiden größten Städte konzentriert sich auf die meist in den 1950er Jahren errichteten Kulturhäuser, die in vielen Kleinstädten anzutreffen sind. Darüber hinaus eröffnen im Zuge des sich entwickelnden Tourismus einige Handwerksmuseen im ländlichen Raum.
Alltagskultur
Hinsichtlich der Alltagskultur sticht Lettgallen durch das Lettgallische heraus, das vor allem im Zentrum und im Nordosten in der Region von etwa 100.000 Personen aktiv gesprochen wird und eine Variante des Lettischen darstellt. Im Zuge der Gegenreformation begann sich im 18. Jahrhundert das Lettgallische als Schriftsprache herauszubilden. Von 1920 bis 1934 besaß es den Status einer lokal auf Lettgallen beschränkten Amtssprache neben dem Lettischen. Nachdem Lettgallisch während der sowjetischen Phase nicht gefördert wurde, erlebt es gegenwärtig eine Wiederbelebung im kulturellen Bereich von unterschiedlichen Druckerzeugnissen oder Theaterstücken bis hin zur musikalischen Jugendkultur wie Rap und Popmusik.
Architekturgeschichte
Architekturgeschichtlich herausragend sind in der Region die aus dem Mittelalter stammenden Burgruinen von Ludsen, Marienhausen und Rositten. Die polnisch-litauische Herrschaft hinterließ ihre Spuren mit zahlreichen Kirchenbauten, worunter die Basilika von Aglohn aus dem 18. Jahrhundert herausragt. Neben den katholischen Kirchen stellen nicht zuletzt die zum Teil in Holzbauweise und mitten in der Landschaft zu findenden Altgläubigerkirchen eine Besonderheit dar. Des Weiteren sind die zahlreichen Herrenhäuser des polnischen/deutschbaltischen Adels wie das Kreslau-Schloss der Familie Plater oder das Prely-Herrenhaus der Familie von der Borch auf dem Land bis heute eine Sehenswürdigkeit. Als Zeugnisse der rasanten Bautätigkeit um 1900 in Dünaburg sind in der Innenstadt einige Jugendstilfassaden gut erhalten geblieben, während in Rositten einige wenige Holzhäuser aus dem 19. Jahrhundert die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges überstanden haben, von denen vor allem die renovierte Grüne Synagoge heraussticht. Das markanteste Gebäude aus der Zwischenkriegszeit ist das Haus der Einheit in Dünaburg. Die sowjetische Zeit hinterließ die neoklassizistischen Kulturhäuser, die charakteristischen Plattenbauten sowie in Dünaburg einen über 200 Meter hohen Fernsehturm. Bekanntestes Denkmal ist das „Vereinigt für Lettland“-Denkmal in Rositten aus der Ulmaniszeit.
Musik
Die für die lettische Musikkultur konstitutiven Sängerfeste wurden während der Zwischenkriegszeit auch in Lettgallen zum Bestandteil der breiteren Volkskultur. 1923 eröffnete in Dünaburg ein Musikkonservatorium unter der Leitung des überregional bekannten Organisten Nikolajs Vanadziņš (1892–1978), der allerdings ab 1929 seine Karriere in Riga fortsetzte. Sein Nachfolger am Konservatorium in Dünaburg wurde Alfrēds Feils (1902–1942), der, nachdem er das Sängerfest 1940 in Dünaburg mitorganisiert hatte, 1941 deportiert wurde und ein Jahr darauf in Haft verstarb. Aus der Region selbst stammte Jānis Ivanovs (1906–1983), der am Konservatorium und an der Nationaloper in Riga sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch unter sowjetischer Herrschaft tätig war und dessen 6. Symphonie Lettgallen gewidmet ist. International bekannt wurde der polnische Komponist und Dirigent Grzegorz Fitelberg (1879–1953), der 1879 in Dünaburg geboren wurde, die ersten Lebensjahre dort verbrachte und später u. a. mit Sergej Djagilev (1872–1929) zusammenarbeitete. Im Bereich der Unterhaltungsmusik erlangte der ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts in Dünaburg geborene Oscar Strock (1892–1975) international mit seinen Tangos Berühmtheit.
Buch-, Druck- und Literaturgeschichte
Die ersten Texte in lettischer und lettgallischer Sprache in der Region sowie der erste regional verankerte Buchdruck gehen auf die Bestrebungen der Jesuiten im 17. Jahrhundert zurück. Das erste Buch in lettgallischer Sprache, das bis heute erhalten ist, erschien 1753 mit dem Titel Evangelia toto anno. Es beinhaltet Kirchenlieder und verfestigte die Tradition der engen Symbiose zwischen Katholizismus und lettgallischer Kultur und Schriftlichkeit. Durch das Verbot des Gebrauchs lateinischer Buchstaben ab 1863 als Folge des polnischen Januaraufstandes wurde die weitere Entwicklung der Publizistik der Region behindert. Während dieser Zeit machte sich der Gelehrte und im Staatsdienst stehende Adlige Gustav von Manteuffel-Szoege (1832–1916) verdient für die Weiterentwicklung der lettgallischen Schriftlichkeit, indem er selbst auf Lettgallisch publizierte. So gab er die erste lettgallische Zeitschrift heraus (Inflantu zemes laika grōmota aba kalenders), die von 1862 bis 1871 erschien. Am bekanntesten aber wurde sein Buch Pilniga lyugszonu gromota [Vollständige Gebetbuchsammlung]. Im frühen 20. Jahrhundert wurde St. Petersburg zum intellektuellen Zentrum der lettgallischen/lettischen Nationalbewegung. Als Kämpfer und Identifikationsfigur für die lettgallische Sprache gilt Andrivs Jūrdžs (1845–1925), von dem allerdings keine publizierten Erzeugnisse erhalten sind. Eine gewisse Tragik besteht in dem Umstand, dass ausgerechnet während der deutschen Besatzungszeit 1941–1944 die lettgallische Publizistik gefördert wurde, um den lettischen Nationalismus zu schwächen. So entstand der Verlag Lōcs, einige lettgallische Zeitungen erschienen und sogar ein Lettgallisch-Deutsches Wörterbuch wurde gedruckt, das lange Zeit das einzige seiner Art bleiben sollte. Die besondere Beziehung Deutschlands zu lettgallischer Publizistik wurde durch die Herausgabe der zentralen lettgallischen Zeitschrift Acta Latgalica in München 1965 fortgesetzt. Allerdings fand die Zeitschrift nur wenige Jahre nach dem Tod des lettgallischen Intellektuellen und Mitherausgebers, Miķelis Bukšs (1912–1977), 1981 ein vorläufiges Ende. Die Herausgabe wurde ab 1993 wieder aufgenommen, nun in Dünaburg durch den Verlag des Instituts für die Erforschung Lettgallens an der Universität Dünaburg (Latgales Pētniecības institūts), der neben dem Verlag des Zentrums für die Kultur Lettgallens (Latgales Kultūras centra izdevniecība) in Rositten das wichtigste Publikationsorgan für die regionale Kultur und Geschichte gegenwärtig ist.
Auch in der sowjetrussischen Literatur ist der Stadt Dünaburg mit dem avantgardistischen Roman „Die Stadt N“ von Leonid Dobyčin (1894–1936), der in der Stadt selbst aufgewachsen war, 1934 ein Denkmal gesetzt worden. Allerdings fiel der Text der Zensur zum Opfer und konnte erst 1989 erscheinen.
Gedächtnis- und Erinnerungskultur
Zum Zwecke der touristischen Vermarktung wird gegenwärtig aktiv eine lettgallische Tradition konstruiert, was an provinziellen Handwerkermuseen zum Mitmachen oder kulinarischen Attraktionen ebenso zu erkennen ist wie an der Vermarktung des Lettgallischen in der Populärkultur. Parallel dazu erfährt auch das lange verschwiegene jüdische Erbe der Region eine größere, ebenfalls touristische Aufmerksamkeit durch einschlägige Publikationen oder die Eröffnung von Synagogen als Museen. Das polnische Erbe der Region steht weniger im Fokus, auch wenn es in Gestalt des Denkmals zum polnischen Januaraufstand in Dünaburg oder der Josef-Piļsudski-Schule durchaus sichtbar ist. Am schwierigsten gestaltet sich aufgrund der großen russischen Minderheit, die in Dünaburg eine Mehrheit bildet, und der angespannten außenpolitischen Situation gegenüber Russland, das russisch-sowjetische Erbe. Es gibt praktisch kein positiv konnotiertes Gedenken an diese Zeiten, obwohl sowohl vor dem Ersten Weltkrieg als auch während der sowjetischen Epoche das wirtschaftliche und das Bevölkerungswachstum beachtlich war.
4. Diskurse/Kontroversen
Am problematischsten ist das Stigma der Rückständigkeit, das zugleich eng mit der peripheren Lage verbunden ist, in der sich die Region in unterschiedlichen Zusammenhängen immer befand. Ob aus Rigaer, Stockholmer, Warschauer, Petersburger oder Moskauer Sicht, immer hatte die Region mit einer kulturellen Differenzerfahrung mit dem politischen Zentrum zu kämpfen. Neuere Versuche, den regionalen Eigenwert des kulturellen Sonderweges als Stärke zu sehen, haben touristisch folkloristische Erfolge zu verzeichnen, befeuern aber zugleich auch die Gefahr zu starker regionaler Eigenidentitäten, die vor allem vor dem Hintergrund der Konflikte mit Russland zu neuen Problemen führen. So kämpften im Ukrainekonflikt freiwillige aus Lettgallen auf Seiten der durch Russland unterstützten Volksrepubliken Lugansk und Donezk und die Idee der Gründung einer Volksrepublik Lettgallen wurde artikuliert, was vor dem Hintergrund des teilweise großen russischen Bevölkerungsanteils Konfliktpotential offenbarte. Gerade aus diesem Grund ist eine offenere und ehrlichere Integration des russisch-sowjetischen Erbes der Region wünschenswert, um von außen gesteuerte Überreaktionen zu vermeiden bzw. abzuschwächen.
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Boguslaw Dybas: Polnisch-Livland (Lettgallen) im 18. Jahrhundert. Ein Land zwischen Staaten und Nationen. In: Michael Schwidtal und Armands Gūtmanis (Hg.): Das Baltikum im Spiegel der deutschen Literatur. Carl Gustav Jochmann und Garlieb Merkel. Heidelberg 2001. Winter (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 181), S. 241–246.
- Fjodors Fjodorovs (Hg.): Latgale kā kultūras pierobeža [Lettgallen als Grenzland der Kultur]. Daugavpils 2008.
- Aleksandrs Ivanovs: Apcerējumi par Latgales vēstures historiogrāfiju. Līdz 1945. Gadam [Aufsätze zur Historiographie der Geschichte Lettgallens. Bis 1945]. Rēzekne 2003.
- Ēriks Jēkabsons, Valters Ščerbinskis: Latgaliešu politiķi un politiskās partijas neatkarīgajā Latvijā [Lettgallische Politiker und politische Parteien im unabhängigen Lettland]. Rīgā 2006.
- Andrejs Plakans: Regional Identity in Latvia: The Case of Latgale. In: Martyn Housden und David J. Smith (Hg.): Forgotten pages in Baltic history. Diversity and inclusion. Amsterdam 2011 (On the boundary of two worlds, 30), S. 49–70.
- Tilman Plath: Die lettische Region Latgaale unter deutscher Besatzung 1941 bis 1944: Reaktionen der Bevölkerung. In: Sebastian Lehmann, Robert Bohn und Uwe Danker (Hg.): Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt. Paderborn 2012, S. 101–116.
- Henriks Soms (Hg.): Regional Identity of Latgale. Riga 2002.
- Josifs Šteimans: Latgales ebreju vēstures historiogrāfija [Historiographie der Geschichte der Juden Lettgallens]. Rēzekne 2000.
- Josifs Šteimans: Latgale. 1914–1920. Rēzekne 2005.
- Krzysztof Zajas: Absent Culture. The Case of Polish Livonia. Frankfurt/M. 2013.
- Pēteris Zeile: Latgales kultūras esture. No akmens laikmeta līdz mūsdienām [Geschichte der Kultur Lettgallens. Von der Steinzeit bis heute]. Rēzekne 2006.
- Pēteris Zeile: Latgales periodika [Zeitschriften und Presse Lettgallens]. 1862–2013. Rēzekne 2013.
Periodica
- Acta Latgalica (1965–1981 München, seit 1993: Forschungsinstitut Lettgallen der Universität Dünaburg)
- Via Latgalica (seit 2008, Kulturinstitut Lettgallen Rositten)
- Vēsture: Avoti und cilvēki (seit 1991, Universität Dünaburg)
Weblinks
- https://stat.gov.lv/lv (offizielles Statistikportal der Republik Lettland)
- http://lpi.du.lv/ (Homepage des Forschungsinstituts Lettgallen der Universität Dünaburg)
- www.lkcizdevnieciba.lv/ (Homepage des Verlags des Kulturinstituts Lettgallens)
- latgalesdati.du.lv/ (Online-Ressource zur Geschichte und Kultur Lettgallens)
Anmerkungen
[1] Hier stehen sich Meinungen der Historiker Andew Ezergailis auf der einen und Jorif Ročkos, Aigars Urtāns, Grigorijs Smirins auf der anderen Seite gegenüber.
Zitation
Tilman Plath: Lettgallen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2021. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32568 (Stand 07.06.2021).
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