Ukraine

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Ukraine

Amtliche Bezeichnung

Ukrajina

Etymologie

„Ukraina“ als regionale Bezeichnung findet sich erstmals in ostslawischen Chroniken des 12. und 13. Jahrhunderts für die Grenzgebiete des Kiewer Reichs. Der Name leitet sich vom altslawischen "kraj" (Rand, Grenzgebiet) ab. Ab dem 16. Jahrhundert wurde sie für den Raum des mittleren Dnjepr (ukr. Dnipro, russ. Dnepr) verwendet, vor allem in Verbindung mit den dort lebenden Kosaken.

Die Bezeichnung „Ruthenen“ für die in der Habsburgermonarchie lebenden Ukrainer findet sich noch in der Karpaten-Ukraine als „Rusyn“. „Kleinrussland“ (Malorossija) bezeichnete im Russischen Reich offiziell die ukrainischen Gebiete seit der Angliederung des Hetmanats der Dnjepr-Kosaken, im Gegensatz zur „großen Rus’“ im Nordosten. Ursprünglich hatte der Patriarch von Konstantinopel im 14. Jahrhundert die Diözesen im Südwesten als „Kleine Rus’“ bezeichnet.

2. Geographie

Lage

Die Ukraine, gelegen zwischen dem 22. und 40. Grad östlicher Länge sowie dem 45. und 52. Grad nördlicher Breite, ist mit einer Fläche von 603.700 Quadratkilometern das größte Land Europas nach der Russischen Föderation. Sie hat Landesgrenzen mit Weißrussland/Belarus, Polen, Rumänien, der Republik Moldau, Ungarn, der Slowakei sowie mit der Russischen Föderation. Die Länge der ukrainischen Schwarzmeerküste beträgt 1.355 Kilometer.

Topographie

Der wichtigste Fluss der Ukraine ist der Dnjepr, der mit einer Länge von 2.201 Kilometern der drittlängste Fluss Europas ist. Er teilt die Ukraine in die „linksufrige“ und in die „rechtsufrige Ukraine“. Während die größte Landmasse flach ist oder nur sanfte Hügel aufweist, bilden die Karpaten mit Bergen bis zu 2.000 Metern eine Barriere. Das Krimgebirge erreicht bis zu 1.500 Höhenmeter. Ausgedehnte Wälder finden sich vor allem im Norden. Die sehr fruchtbare Schwarzerde findet sich in der Waldsteppenzone im Süden und Südosten des Landes.

Historische Geographie

Die heutigen Staatsgrenzen der Ukraine sind identisch mit jenen der innersowjetischen Föderationsgrenzen. Die Westgrenze geht zurück auf die Abmachungen der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945, in denen die Westmächte der UdSSR die Gebiete östlich der sogenannten „Curzon-Linie“ zubilligten: Polen musste Westwolhynien und Ostgalizien abtreten, Rumänien Südbessarabien und die Nordbukowina, die Tschechoslowakei die Karpaten-Ukraine und Ungarn zwei Komitate mit ukrainischer Mehrheitsbevölkerung. 1948 trat Rumänien die kleine Schlangeninsel im Schwarzen Meer an die UdSSR ab, deren Zugehörigkeit zur Ukraine 1997 vertraglich bestätigt wurde. 1954 beschloss der Oberste Sowjet der UdSSR, die Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik zuzuordnen, über deren Territorium die logistische Versorgung der Halbinsel verlief. 2014 erfolgte eine Grenzveränderung mit der Annexion der Krim durch die Russische Föderation, die völkerrechtlich nicht legitimiert ist.

Trotz der während des 20. Jahrhunderts immer wieder staatlich veranlassten Bevölkerungstransfers (darunter der polnisch-ukrainische Bevölkerungsaustausch 1944, die Deportation der ukrainedeutschen Bevölkerung aus den östlichen Gebieten 1941 sowie der Krimtataren und weiterer Völker 1944) und der Ermordung eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung im Holocaust ist die Ukraine heute ein multiethnischer Staat: Neben der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung leben hier vor allem Russen, Moldauer und viele weitere Ethnien (siehe Tabelle). Die russischsprachige Bevölkerung wohnt mehrheitlich in den östlichen Gebieten – Donezk/Donec’k, Luhans’k/Lugansk, Charkow/Charkiv −, aber auch im Süden. Die ukrainische Diaspora lebt heute vor allem in der Russischen Föderation und in Kasachstan, ebenso in den USA und Kanada, in Südamerika sowie in einer Reihe europäischer Staaten.

3. Geschichte und Kultur

Ukraine und Ukrainer: Vor-nationale Phase

Die Verfassung der Ukraine von 1996 beruft sich in ihrer Präambel auf eine „viele Jahrhunderte währende Geschichte der Schaffung des ukrainischen Staatswesens“[1]. Im historischen Rückblick erwies sich allerdings erst die 1991 proklamierte staatliche Unabhängigkeit der Ukraine als nachhaltig. Dabei reichen Grundlagen ihrer kulturellen Prägung durch die Übernahme des Christentums aus Byzanz bis in das ostslawische Reich der Kiewer Rus’ (10.−13. Jahrhundert) zurück. Weitere historische Herrschaftsmittelpunkte auf dem Territorium der Ukraine finden sich im Fürstentum Galizien-Wolhynien, das sich in der Zeit der Mongolenherrschaft über die Rus’ (1237–1480) eine gewisse Autonomie bewahren konnte. Gleichzeitig setzte hier durch dynastische Beziehungen und Handel ein kultureller Austausch mit westeuropäischen Ländern ein. Zudem fand unter den Bedingungen des polnisch-litauischen Imperiums, in das die ostslawisch-ruthenisch bewohnten Gebiete inkorporiert wurden, eine verstärkte Okzidentalisierung statt. Infolge der Teilungen Polen-Litauens 1772 und 1795 wurden diese Gebiete von der Habsburgermonarchie übernommen.

1654 unterstellte sich das Hetmanat der Kosaken im mittleren Dnjeprgebiet infolge des Vertrags von Andrusovo 1654 dem russischen Zaren; eine neuerliche kosakische Staatlichkeit kam nicht mehr zustande. Gleichzeitig ist ab dem 17. Jahrhundert von der ostslawischen Ausdifferenzierung einer ukrainischen, russischen und weißrussischen Ethnie auszugehen. Die nationale Bewegung unter den Ukrainern des Russischen Reiches einerseits und innerhalb des habsburgischen Imperiums mit Schwerpunkt Galizien andererseits wurde vor allem von gelehrten Zirkeln, von Intellektuellen und von griechisch-katholischen Priestern getragen. Eine Massenbewegung, die auch die bäuerliche Bevölkerung erfasst hätte, entstand hieraus nicht.

Der Erste Weltkrieg und die bürgerlichen ukrainischen Staatlichkeiten

Während etwa Polen, die Tschechoslowakei und die baltischen Staaten als Folge des Ersten Weltkriegs eigene Staatlichkeiten realisieren konnten, blieb dieser Versuch bei den Ukrainern in den Anfängen stecken. Die militärische Schwäche der Ukrainischen Volksrepublik unter der Zentralversammlung (Central’na Rada, März 1917 − April 1918), dem Hetmanat Skoropads’kyjs (April − November 1918) und dem Direktorium (ab Dezember 1918, vereint im Januar 1919 mit der seit November 1918 in Galizien bestehenden Westukrainischen Volksrepublik) angesichts einer Überzahl an in- und ausländischen Interventionstruppen und irregulärer Heerscharen, die Abhängigkeit von den im Weltkrieg unterlegenen Mittelmächten und die zurückhaltende Mobilisierung nationaler Kräfte reduzierten von vornherein die Durchsetzungsfähigkeit. Die seit 1917 in Charkow installierte bolschewistische Regierung befehligte die schlagkräftigeren Truppen und übernahm schließlich die Herrschaft über das von Bürgerkrieg, Anarchie und Hunger gezeichnete Land. 1921, nach dem polnisch-sowjetischen Krieg, kam das Ende der bürgerlichen Regierungen. Dennoch sind sie ein Bezugspunkt nationaler Erinnerung in der Gegenwart, insbesondere vor dem Hintergrund der darauf folgenden Sowjetherrschaft. Denn für die nächsten Dekaden wurde die im Januar 1919 proklamierte ukrainische Sowjetrepublik prägend, die 1922 zu den Gründungsmitgliedern der UdSSR gehörte und damit weitgehende Kompetenzen ihrer Innen- und Außenpolitik an die Zentrale in Moskau/Moskva transferierte.

Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik

Die sowjetische Herrschaft erbrachte zwar eine territoriale Vereinigung aller wichtigen, von Ukrainern besiedelten Gebiete, insbesondere infolge der sowjetischen West-Ausdehnung nach dem Zweiten Weltkrieg, und sie ermöglichte Ukrainern Karrierechancen innerhalb des Systems. Zugleich wurden aber als antisowjetisch verfolgte soziale Gruppen (z. B. Kulaken, nationalukrainische Akteure, Geistliche und andere) sowie die ohnehin nur schwach ausgeprägten Eliten Repressionen unterworfen.

Dabei unternahm die junge Sowjetregierung in den 1920er Jahren den Versuch, die Nationalitäten durch eine kulturelle Förderung an sich zu binden und sowjetische Kader unter ihnen heranzuziehen. Für die Ukraine bedeutete diese Politik der „Einwurzelung“ (russ. korenizacija) ab 1923 unter anderem die Stärkung der ukrainischen Sprache. Ukrainische Nationalkommunisten wie die Kommissare für Volksbildung Oleksandr Šums’kyj (1890−1946) und Mykola Skrypnyk (1872−1933) waren willige Ausführende der Moskauer Vorgaben. Allerdings wurde der – ohnehin nur schwache – Einfluss ukrainischer Politiker auf sowjetische Direktiven immer geringer, je größer die Angst Stalins (1878–1953), seit 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei, vor einer Systemgefährdung durch nationale Kräfte wurde. Die von ihm initiierte „Revolution von oben“ mit der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung ab Ende der 1920er Jahre begleitete eine Säuberung der ukrainischen Nationalkommunisten. Die immensen sozialen Umwälzungen wurden verstärkt durch die verheerende Hungersnot (Holodomor, wörtlich: Hungertod) 1932/33. Ausgelöst durch eine Missernte und verstärkt durch Getreideexporte der sowjetischen Regierung, die nach außen aus propagandistischen Gründen die Hungersnot im Land verleugnete, hatte diese in der Ukraine (wie in Südrussland) Millionen von Toten zur Folge. Die Zahl der Verhungerten lässt sich nur annähernd schätzen: Westliche Historiker gehen von etwa sechs Millionen Hungeropfern in der europäischen Sowjetunion aus, davon mehr als die Hälfte ethnische Ukrainer,[2] ukrainische Historiker kommen auf knapp vier Millionen Tote in der Ukraine, teilweise aber auch auf bis zu zehn Millionen.[3]

Die These, dass die Katastrophe von Moskau absichtlich verursacht worden sei, um die ukrainische Bevölkerung auszulöschen, wird vor allem von ukrainischen Historikern vertreten, ist aber aus mehreren Gründen angreifbar:[4] Der Hunger ging über die Ukraine weit hinaus und erfasste auch Regionen wie Westsibirien, den südlichen Ural, Nordkasachstan, den nördlichen Kaukasus, den Kuban und das Wolgagebiet, wo er auch Russen und andere Nationalitäten in Mitleidenschaft zog. Weiter wirkte er nicht gleichmäßig verteilt in der Ukraine, wo das Hungersterben von West nach Ost zunahm. Dennoch erkennen neben der Ukraine einige weitere Staaten das Massensterben als „Genozid an den Ukrainern“ an; 2008 bezeichnete das Europaparlament den „Holodomor (die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933 in der Ukraine) als schreckliches Verbrechen am ukrainischen Volk und gegen die Menschlichkeit.“[5]

Die landesweiten stalinistischen Säuberungen und den Großen Terror 1936−1938, der durch einen Angriff auf den „ukrainischen Nationalismus“ ab 1933 eingeleitet wurde, überwachte in der Ukraine seit 1938 Nikita Chruschtschow (Chruščev, 1894−1971) als Erster Sekretär der ukrainischen Kommunistischen Partei (KP). Den Säuberungen der Jahre 1936–1938 fiel fast die gesamte politische Führung in Kiew/Kyjiv/Kiev zum Opfer: neben dem Politbüro, dem Orgbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees der Partei auch die 17 Volkskommissare der Ukraine. Von 102 Mitgliedern des Zentralkomitees (ZK) und Kandidaten überlebten nur drei ihre Verhaftung. Eine Gesamtzahl aller stalinistischen Opfer in der Ukraine lässt sich aber schwer errechnen, weil die Quellenlage zu unübersichtlich ist und in Statistiken der Opferbegriff oft nicht weiter differenziert wird. Zu den Opfern gehören außerdem nicht nur die Toten, die durch direkte Terroreinwirkungen wie Erschießungen umkamen, sondern auch jene, die durch Maßnahmen wie Lagerhaft, in der Deportation oder auf dem Weg dorthin und bei den wiederkehrenden Hungersnöten starben.[6]

Das Schicksal der Ukraine im Zweiten Weltkrieg wurde maßgeblich durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 (Hitler-Stalin-Pakt) bestimmt: Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 marschierte die Rote Armee am 17. September 1939 im östlichen Polen ein und besetzte Ostgalizien. Es folgten die ersten Maßnahmen zu einer Sowjetisierung, bis die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die „Operation Barbarossa“ und den Angriff auf die Sowjetunion einleitete. Dies nutzte die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), eine terroristische und nationalistische Gruppierung, und rief am 30. Juni 1941 in Lemberg/L’viv/Lwów einen ukrainischen „Staat“ aus. Das Unterfangen scheiterte bereits nach wenigen Tagen am deutschen Widerspruch. Die deutschen Pläne sahen vielmehr eine Aufteilung der Ukraine in vier unterschiedlich verwaltete Territorien vor: Aus den westukrainischen Gebieten wurde der Distrikt Galizien des Generalgouvernements, die Territorien im Süden zwischen Bug (Buh) und Dnister (Dnestr) gingen als „Transnistrien“ an die rumänische Verwaltung und die Gebiete Czernowitz/Černivci/Cernăuţi und Ismaїl ebenfalls an Rumänien, während die zentrale Ukraine am 1. September 1941 das „Reichskommissariat Ukraine“ bildete. Das zivile Besatzungsregime sah keinerlei Mitspracherechte für die einheimische Bevölkerung vor, sondern vielmehr deren Deportation als ‚Ostarbeiter‘ in das Reichsgebiet – die Mehrheit dieser Arbeitssklaven aus Osteuropa waren Ukrainerinnen – sowie die Ausbeutung der Rohstoffe des Landes, sodass vielfach Hunger herrschte. Schätzungsweise 1,4 Millionen Juden, die auf dem Gebiet der besetzten Ukraine lebten, wurden Opfer des Holocaust.[7] Die Ermordung eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung von Kiew in Babyn Jar/Babij Jar bei (jetzt in) Kiew stellte die größte Massenerschießung im Holocaust dar; ein Beteiligter der Einsatzgruppe C der SS berichtete, dass allein am 29. und am 30. September 1941 insgesamt 33.771 Juden getötet worden seien.[8] Die Schreckensherrschaft der NS-Besatzung trat besonders in den über 300 jüdischen Ghettos, den rund 300 Zwangsarbeiterlagern und den Kriegsgefangenenlagern zu Tage, deren Insassen vielfach an Hunger zu Grunde gingen. Der weitere Besatzungsalltag war von der Rationierung der Lebensmittel geprägt, von der permanenten Gefahr, als ‚Ostarbeiter‘ deportiert zu werden, und von deutschen Racheaktionen und Geiselerschießungen nach Partisanenüberfällen.

Der Rückeroberung der Ukraine durch die Rote Armee 1943 folgten die Wiedererrichtung des sowjetischen Regimes sowie die Abrechnung mit NS-Kollaborateuren und jenen, die mit gefälschten Beweisen zu solchen erklärt wurden: repatriierte ‚Ostarbeiter‘ und Kriegsgefangene genauso wie Ukrainer und Russen im Dienst der Wehrmacht oder der zivilen Besatzungsbehörden sowie die Untergrundkämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) in der zu sowjetisierenden Westukraine, die noch bis 1946 der Roten Armee zusetzte. Die Zahl der ukrainischen Insassen in sowjetischen Straflagern stieg von 107.550 Ukrainern (bei insgesamt 1.703.095 Gefangenen) im Jahr 1946 auf 506.221 von insgesamt 2.528.146 Ukrainern im Jahr 1951.[9]

Die Diktatur Stalins endete mit seinem Tod 1953. Die darauf folgende Phase bis 1964, die Amtszeit Chruschtschows als Erstem Parteisekretär in Moskau, brachte der Ukraine politische Entspannung. Erstmals organisierten sich im Geheimen ukrainische Dissidenten, die zunächst eine Lockerung des sozialistischen Kulturdogmas anstrebten, dann aber im Zuge der Helsinki-Menschenrechtsbewegung auf Rechtstaatlichkeit und Demokratisierung drängten. Eine Massenbewegung wurden sie allerdings nie, ihre Zahl blieb überschaubar. Viele ukrainische Oppositionelle wurden aus politischen Gründen zu Haftstrafen verurteilt oder in psychiatrische Kliniken eingeliefert.

Noch im Jahr vor dem Sturz Chruschtschows 1964 wurde Petro Šelest (1908–1996; 1963−1972) als Parteisekretär in Kiew eingesetzt, der einen vorsichtigen „ukrainischen Kurs“ verfolgte. Seine Ablösung durch den Hardliner Volodymyr Schtscherbitzki (Ščerbic’kyj, 1918–1990; 1972−1989) hatte eine verstärkte Moskauzentrierung und Russifizierung zur Folge, die sich auch der „Perestrojka“ des neuen Generalsekretärs der Partei, Michail Gorbatschow (Gorbačev), verweigerte. Erst die traumatischen Ereignisse der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl/Čornobyl’ am 26. April 1986 und die Erschütterung der ukrainischen und sowjetischen Bevölkerung durch die Untätigkeit der Behörden bewirkten ein Umdenken der Politik. In dieser Zeit bildeten sich zudem zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Gruppierungen, die für eine Demokratisierung eintraten, 1989 kam es zu Streiks in den Kohlegruben des Donbas (russ. Donbass), bei denen die Streikenden zunächst soziale, dann politische Ziele anstrebten. Die 1989 gegründete „Volksbewegung der Ukraine für Perestrojka“ (Narodynj ruch Ukraïny za perebudovu), kurz Ruch, spielte im Demokratisierungsprozess eine wichtige Rolle. Die anti-sowjetische Protestbewegung in der Ukraine erhielt durch ihre nationale Komponente eine Eigendynamik, die schließlich auf die staatliche Unabhängigkeit abzielte. Im September 1989 wurde Ščerbic’kyj ebenso wie weitere reformresistente Politiker in der ukrainischen Republikführung von Moskau abgesetzt. Am 16. Juli 1990 erklärte der Oberste Rat der Ukraine (Verchovna Rada Ukraïny) die staatliche Souveränität der Ukraine. Obwohl der Sowjetunion durch die Abspaltung der Ukraine eine wichtige wirtschaftliche Basis verloren ging, stellte sich Moskau dem nicht entgegen, bestand jedoch auf der Abgabe der Atomwaffen und auf einer Garantie für die Nutzung des Flottenstützpunktes Sewastopol/Sevastopol’ auf der Krim.

Die Ukraine seit 1991

Die Bevölkerung der Ukraine bestätigte die staatliche Unabhängigkeitserklärung des ukrainischen Parlaments vom 24. August 1991 in einem Plebiszit am 1. Dezember 1991 mit einer überwältigenden Mehrheit von 90,3 Prozent, womit auch die nationalen Minderheiten inklusive der russischen Bevölkerung zu einem großen Teil die ukrainische Eigenstaatlichkeit unterstützten.[10] Der Wandel des Einparteiensystems und der zentralen Kommandowirtschaft zu Parteienpluralismus und Marktwirtschaft verlief allerdings langsam und mühselig. Unter den ersten beiden postsowjetischen Staatspräsidenten Leonid Krawtschuk (Kravčuk, geb. 1934; 1991−1994) und Leonid Kutschma (Kučma, geb. 1938; 1994−2005) gelangen weder ein Elitenwechsel in Politik und Wirtschaft noch die dringend nötige Modernisierung von Betrieben oder Lustrationen (Entfernung von politisch belasteten Mitarbeitern) in Administration und Justiz. Korruption in alltäglichen Bereichen wie im Straßenverkehr, im Schul- und Hochschulwesen und in der Verwaltung sowie Druck auf die freie Presse, der bis zur physischen Ausschaltung führen konnte, ließen die allgemeine Unzufriedenheit wachsen. Der Unmut mündete in der Orangenen Revolution 2004/05, die, getragen von einer relativ breiten Bürgerbewegung, nach Monaten des Protestes bei eisigen Wintertemperaturen, dem „orangenen“ und für die europäische Integration des Landes stehenden Präsidentschaftskandidaten Viktor Juschtschenko (Juščenko, geb. 1954) in das Amt verhalf. Allerdings liefen seine auf Demokratisierung abzielenden Reformanstrengungen ins Leere, zumal sich die orangenen Kräfte zerstritten. Mit dieser Steilvorlage gelang seinem Rivalen Viktor Janukowitsch (Janukovyč, geb. 1950) der Sieg in der folgenden Präsidentschaftswahl. Demokratisch gewählt führte er zurück in die Autokratie, die Pressefreiheit wurde erneut eingeschränkt, die Justiz instrumentalisiert, die Behördenwillkür wuchs und das Parlament wurde als willfähriger Erfüllungsgehilfe missbraucht. Der allgemeine Lebensstandard stabilisierte sich auf niedrigem Niveau. Im Corruption Perception Index von 2014 stand die Ukraine auf Platz 142 von 175 untersuchten Ländern.[11]

Als die Regierung unter Ministerpräsident Mykola Azarov (geb. 1947; 2010–2014) am 21. November 2013 die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens auf unbestimmte Zeit verschob, wurde dies zum Auslöser für eine breite Protestbewegung, den „Euromajdan“. Ausgehend von Kiew, wo sich ab November 2013 zunächst einige zehntausend Bürger versammelt hatten, fanden sich bald im ganzen Land Unterstützer der „Revolution der Würde“[12]. Die Gewalt auf dem Majdan in Kiew eskalierte, als ab dem 20. Januar 2014 Scharfschützen in die Menge feuerten und an die 100 Personen erschossen. Unter dem steigenden Druck der Straße entschloss sich Janukowitsch zur (vorbereiteten) Flucht nach Russland. Dies führte zu seiner Absetzung durch das Kiewer Parlament. In der Präsidentschaftswahl am 25. Mai 2014 wurde mit Petro Poroschenko (Porošenko, geb. 1965; 2014–2019) erstmals ein Kandidat der gesamten Ukraine gewählt.

Währenddessen gerieten Regionen mit starken russischen Bevölkerungsanteilen in Aufruhr. Nach einer zweifelhaften Volksabstimmung und dem Einsickern von Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim wurde die Halbinsel am 21. März 2014 von Russland annektiert. In Donezk und Luhansk errichteten von Moskau mehr oder weniger unverhüllt unterstützte Aufständische Pseudostaatlichkeiten mit dem Ziel, diese „Volksrepubliken“ von der Ukraine loszulösen. Der in diesen Gebieten geführte Krieg – in der Ukraine als ATO (Anti-Terror-Operation) bezeichnet – zwischen regulären und paramilitärischen ukrainischen Einheiten und hoch gerüsteten Separatisten kostete bisher einige tausend Todesopfer, hat die Verängstigung der betroffenen Zivilbevölkerung und Binnenflüchtlingsströme, die Millionen Menschen umfassten, zur Folge. Er destabilisiert die Ukraine in ihren Bemühungen, die Demokratisierung voranzubringen. Auf zwei Gipfeltreffen in Weißrussland/Belarus versuchten Frankreich und Deutschland, zwischen der Ukraine einerseits und Russland bzw. den Separatisten andererseits zu vermitteln. Die in zwei Verträgen – „Minsk I“ vom 5. September 2014 und „Minsk II“ vom 12. Februar 2015 – mündenden Verhandlungen konnten jedoch die Etablierung pseudo-staatlicher Strukturen in Donezk und Luhansk nicht verhindern.

Aus Enttäuschung über die nicht gelungenen öffentlichen Reformen und über weiter regierende, korrupte Eliten konnte sich bei den Stichwahlen zu den Präsidentschaftswahlen 2019 der politische Newcomer Volodymyr Selenskyj (Zelens’kyj, geb. 1958) durchsetzen. Seit 1991 ist er damit der siebte Präsident, der durch einen demokratisch legitimierten Wechsel ins Amt kam. Dies ist bemerkenswert, verglichen mit Weißrussland/Belarus, wo Aleksandr Lukaschenko (Lukašenko) seit 1991 ununterbrochen regiert, und mit der Russischen Föderation, wo nach Präsident Boris Jelzin (El’cin) Präsident Vladimir Putin seit dem Jahr 2000 amtiert  – bei einmaligem Ämtertausch mit Dmitrij Medvedev 2008–2012 – und nach der Verfassungsänderung 2020 eine mehrmalige Wiederholungsoption hat.

Den Kurs einer EU-Annäherung verfolgt Kiew weiterhin. Den die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit regelnden Teil eines Assoziierungsabkommens hatte Poroschenko bzw. die Übergangsregierung im März und im Mai 2014 unterzeichnet. Als tieferer Effekt des anhaltenden Kriegszustandes in der Ukraine ist zu beobachten, dass die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, Patriotismus und die zivile Mobilisierung eine integrative Kraft innerhalb der Gesellschaft entfalten, die es in vorhergehenden Jahrzehnten nicht gab.

Ethnische Minderheiten/Deutsche in der Ukraine

Die multiethnische Zusammensetzung der Ukraine war über lange Jahre hinweg kein Grund für innenpolitische Zerwürfnisse. Den Angaben des Zensus zufolge lebten 2001 in der Ukraine über 130 Ethnien:

Anzahl und Zusammensetzung der Bevölkerung der Ukraine nach dem ersten nationalen Zensus 2001[13]

    Absolute Zahlen
(in Tausend)
In Prozent
2001
In Prozent
1989
Ukrainer   37.541,7 77,8 72,7
Russen   8.334,1 17,3 22,1
Weißrussen   275,8 0,6 0,9
Moldauer   258,6 0,5 0,6
Krimtataren   248,2 0,5 0,0
Bulgaren   204,6 0,4 0,5
Ungarn   156,6 0,3 0,4
Rumänen   151,0 0,3 0,3
Polen   144,1 0,3 0,4
Juden   103,6 0,2 0,9
Armenier   99,9 0,2 0,1
Griechen   91,5 0,2 0,2
Tataren   73,3 0,2 0,1
Roma   47,6 0,1 0,1
Aserbaidschaner   45,2 0,1 0,0
Georgier   34,2 0,1 0,0
Deutsche   33,3 0,1 0,1
Gagausen   31,9 0,1 0,1
Weitere Nationalitäten   177,1 0,4 0,4

 

Die Mehrheit der Bewohner sind ethnische Ukrainer, 2001 fast 78 Prozent. In den Jahren vor 1989 stieg ihre Anzahl um 0,3 Prozent und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung um 5,1 Prozentpunkte. Den zweiten Platz nehmen Russen ein. Verglichen mit 1989 fiel ihr Anteil um 26,6 Prozent, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung reduzierte sich um 4,8 Prozentpunkte und belief sich 2001 auf 17,3 Prozent.

In dieser Aufstellung fällt die deutsche Minderheit zahlenmäßig kaum auf. Dennoch kommt ihr in historischer Perspektive eine kulturelle Bedeutung in den Siedlungsgebieten Wolhyniens, der Schwarzmeerküste, der Krim, Galiziens und der Bukowina zu. Zum einen trugen deutsche Siedler zur Kolonisation besonders des Südens der Ukraine bei. Zum anderen erhielten in der Neuzeit einige ukrainische Städte das Magdeburger Stadtrecht, darunter Lemberg und Kiew. Dies zog den Ausbau und die Ausdifferenzierung städtischer Institutionen nach sich, wie es sie in weiter östlich gelegenen Regionen nicht gab.

Auch die Verbreitung des Luthertums unter den Ukrainern in Galizien, das noch heute anzutreffen ist, ist durch die einstigen deutschen Siedlungen gefördert worden. Im katholischen Bereich ist zu erwähnen, dass der Schwarzmeerdeutsche Alexander Frison (1875−1935) 1926 einer von vier in päpstlicher Mission in der UdSSR geheim geweihten Bischöfen war. Frison wurde nach wiederholten Verhaftungen während des Stalinschen Terrors 1937 im Gefängnis erschossen.[14]

In der sowjetischen Ära war das Schicksal der Ukrainedeutschen von vielfältigen Brüchen gekennzeichnet. Während der 1920er Jahre wurde nicht nur eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen ins Leben gerufen, sondern darüber hinaus unionsweit eine Reihe deutscher Rayons gegründet, davon zehn in der Ukraine. Hier wurde Deutsch Amtssprache und durch kulturelle Institutionen wie Theater, Bibliotheken und Presse sowie durch Schulen, Hochschulen und Technika im ideologisch erlaubten Rahmen gefördert. Nach dem schleichenden Auslaufen dieser Zugeständnisse an die nationalen Minderheiten traf die unter Stalin durchgepeitschte Kollektivierung der Landwirtschaft die Deutschen in besonderem Maß, weil die Mehrheit von ihnen als Bauern von der Landwirtschaft lebte. Während des Stalinschen „Großen Terrors“ gerieten auch und gerade Minderheiten in das Fadenkreuz der massenhaften Verfolgung vermeintlich „antisowjetischer Akteure“. Viele Deutsche wurden Opfer der „deutschen Operation“ 1937/38, weil sie insbesondere nach Hitlers Machtergreifung als potentielle innere Feinde galten.[15] Nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden infolge des Dekrets des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 über die „Umsiedlung der Wolgadeutschen“ in mehreren Schüben auch 82.900 Deutsche aus der Ukraine in sowjetische Sondersiedlungen nach Westsibirien, Kasachstan, Zentralasien und in den Altaj deportiert.[16]

In den deutsch besetzten Gebieten der Ukraine wurde die ukrainedeutsche Bevölkerung, die in der Einschätzung der SS eine schlechte „deutsche Volkssubstanz“[17] aufwies, hingegen erzogen und indoktriniert, um künftige Führungsaufgaben wahrnehmen zu können. Auch wurden die „Volksdeutschen“ beim Bezug von Lebensmitteln besser gestellt. Sie erhielten Steuerbefreiungen, während die – in der NS-Rassentheorie „minderwertige“ – slawische Bevölkerung streckenweise hungerte. Auch weil die sowjetischen Kolchosbetriebe weiter bestanden, machten sich unter den Deutschen im Reichskommissariat Ukraine (RKU) Enttäuschung und Passivität breit. Während vor allem Reichsdeutsche für den Einsatz im durchaus beträchtlichen Verwaltungsapparat herangezogen wurden, ließen sich auch Ukrainedeutsche aktiv zur Kollaboration mit den Besatzern bewegen. Ortskundige ukrainedeutsche junge Männer beteiligten sich im Dienst des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ an der Erschießung Zehntausender, vor allem von Juden.[18] Ein Beispiel hierfür ist die Massenerschießung von Juden im Dezember 1941/Januar 1942 bei Nikolaev/Mykolaїv, an der sich 60 Männer des „Selbstschutzes“ in Transnistrien beteiligten.[19] Als ein Motiv lässt sich die Aussicht auf den Raub jüdischen Eigentums benennen, weiter sollte die Teilnahme an Massenmorden den „Volksdeutschen“ ihren Anteil an der NS-Ordnung sichern, indem sie dieser ihre Loyalität bewiesen und auf diese Weise strukturelle ökonomische Vorteile erreichen konnten.[20] Die „volksdeutschen“ Kollaborateure waren nicht von Anfang an Antisemiten, aber sie wurden es durch ihre Mitwirkung am Holocaust und durch die fortgesetzte NS-Propaganda während der Okkupation.[21] Die Einordnung dieser Verbrechen in das Gesamtnarrativ der Deutschen mit osteuropäischen Wurzeln in der Gegenwart bedarf noch weiterer Anstrengungen, ebenso wie ihre historiographische Aufarbeitung.[22]

Die NS-deutsche Rücksiedlungspolitik einerseits und die sowjetischen Deportationen andererseits setzten den mehr oder weniger geschlossenen Siedlungen der Deutschen in der Ukraine ein Ende. Die Deutschen aus West-Wolhynien wurden 1939/40 in den Reichsgau Wartheland und in weitere Gebiete überführt, 1943 folgten etwa 90.000 Ost-Wolhyniendeutsche aus dem Reichskommissariat Ukraine.[23] Bereits ab 1942 siedelten die deutschen Besatzungsbehörden verschiedene Gruppen von jeweils einigen tausend „Volksdeutschen“ aus frontnahen Zonen in der okkupierten Ukraine in sicheres Hinterland um. Die administrative, de facto fluchtartige Aussiedlung der Deutschen aus den in der Sowjetunion okkupierten Gebieten, die ab Oktober 1943 durchgeführt wurde und im Wartheland und im Generalgouvernement enden sollte, umfasste drei „Trecks“, zunächst 72.000 Deutsche mehrheitlich aus Cherson, Nikolaev, Kiew, Charkow, Zaporož’e, Krivoj Rog, Melitopol’ und Mariupol’ sowie von der Krim, dann 73.000 Deutsche aus dem nordöstlichen Schwarzmeergebiet und der Südukraine sowie 135.000 Deutsche aus Transnistrien. Mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Westen ergriffen Truppen des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) die zurückgebliebenen „Volksdeutschen“, die kollektiv als Kollaborateure betrachtet wurden.[24] Schon für den Bezug von Lebensmittelrationen während des Krieges mussten sie mehrjährige Lagerstrafen gewärtigen.

Ihnen folgten während des Krieges nach Deutschland geflohene Deutsche aus der Sowjetunion (darunter Deutsche aus der Karpaten-Ukraine, die 1944 sowjetisch wurde), die nach dem Zweiten Weltkrieg als sowjetische und sowjetukrainische Staatsbürger zwangsweise in die UdSSR repatriiert wurden. Sie teilten das Nachkriegsschicksal der meisten Deutschen der Ukraine: die erzwungene Unterbringung in Sondersiedlungen in Sibirien und Kasachstan, aus denen sie erst 1955 entlassen wurden. Eine Rückkehr in ihre alten Siedlungen blieb ihnen verwehrt. Erst Ende der 1980er Jahre durften sie nationale Forderungen und auch den Wunsch der Ausreise nach Deutschland als (Spät-)Aussiedler laut artikulieren.

In der postsowjetischen Ukraine wurden zwar Minderheitenrechte gesetzlich festgelegt, allerdings sind die hier noch siedelnden Deutschen mit der Umsetzung in der Praxis nicht zufrieden. Beunruhigung hat der gegenwärtige militärische Konflikt im Land auch unter den Deutschen hervorgerufen, von dem besonders die noch auf der Krim siedelnden Deutschen – einige hundert – betroffen sind.[25]

Literatur

Die Frage nach einer nationalen ukrainischen Identität wurde und wird in der Belletristik intensiv thematisiert. Den Schriftstellerinnen und Schriftstellern wurden über das Erzählen weit hinausgehende prophetische und heroische Funktionen zugeschrieben bzw. auferlegt. Auch heute genießen sie „einen gewissen Kultstatus“[26].

Im 18. Jahrhundert wurde Ukrainisch durch den Philosophen Hryhorij Skovoroda (1722–1794) als Schriftsprache etabliert. Als eigentlicher Begründer der ukrainischen Literatursprache gilt der Dichter Taras Schewtschenko (Ševčenko, 1814–1861). Dass er vom russischen Zaren verbannt und mit Schreibverbot belegt wurde, prädestinierte ihn noch mehr zum ukrainischen Nationaldichter und Freiheitshelden. Seit 1939 ist die Staatliche Universität Kiew nach ihm benannt. Dem Lyriker, Dramen- und Prosaautor Ivan Franko (1856–1916) hat die Stadt Iwano-Frankiwsk, bis 1962 Stanislau, ihren heutigen Namen zu verdanken.

Autoren unterschiedlicher Muttersprachen lebten in Gebieten, die heute zur Ukraine gehören. Nikolaj Gogol’ (1809–1852) wurde in Velyki Soročynci geboren und griff in seinen russischsprachigen Texten immer wieder Motive ukrainischer Folklore auf. Michail Bulgakov (1891–1940, sein Werk „Der Meister und Margarita“ [„Master i Margarita“] gehört zu den Meisterwerken europäischen Ranges) erlebte die zahlreichen Herrschaftswechsel seiner Geburtsstadt Kiew in den Revolutions- und Bürgerkriegswirren und setzte ihnen in „Weiße Garde“ ein literarisches Denkmal. Der polnische Schriftsteller Bruno Schulz (1892–1942) lebte im galizischen Drohobyč, wo er von einem SS-Soldaten erschossen wurde. In Odessa/Odesa wurde der russischsprachige Journalist und Schriftsteller Isaak Babel‘ (1894–1940) geboren. Als eines der vielen Opfer des stalinistischen Terrors wurde er verhaftet, gefoltert und getötet. Ebenfalls aus Odessa stammte das russischsprachige Satirikerduo Il’ja Il’f (1897–1937) und Evgenij Kataev (bekannt als Evgenij Petrov, 1903–1942). Joseph Roth (1894–1939), österreichischer Schriftsteller, stammte aus dem ostgalizischen Brody. Der polnische Science-Fiction-Autor Stanisław Lem (1921–2006) lebte bis 1946 in Lemberg. Paul Celan (1920–1970) und Rose Ausländer (1901–1988) lernten sich im Ghetto von Czernowitz/Černivci/Cernăuţi kennen.

Zu Sowjet- und postsowjetischen Zeiten erlangte Jurij Andruchowytsch (Andruchovyč, geb. 1960) mit Gedichten, Essays und Romanen, die vorsowjetische wie sowjetische Vergangenheit mit der postsowjetischen Gegenwart kontrastieren, die größte internationale Bekanntschaft unter den ukrainisch schreibenden Autorinnen und Autoren. Zu den in der Ukraine russisch schreibenden Autoren gehört Andrej Kurkov (geb. 1961). Seine Romane („Picknick auf dem Eis“, „Die letzte Liebe des Präsidenten“) erzählen teils realistisch, teils phantastisch von den Skurrilitäten der postsowjetischen Umbruchsgesellschaft.

Den Spuren der k.u.k.-Zeit des multiethnisch geprägten Galiziens und auch der damit verbundenen Mythisierung gehen etwa die Lyriker Tymofij Havryliv (geb. 1971) und Mykola Rjabčuk (geb. 1953) nach. Oksana Sabuschko (Zabužko, geb. 1961) hat sich mit Lyrik und Romanen einen Namen gemacht. Die Verherrlichung des nationalistischen NS-Kollaborateurs und Partisanen Stepan Bandera (1909–1959) und seiner Mitkämpfer, die sie im Roman „Museum der vergessenen Geheimnisse“ vornimmt, spricht für die Spannungen und Spaltungen im Umgang mit der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere des Zweiten Weltkriegs.

Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine sind Themen der Literatur ab 2014. Der Lyriker, Musiker und Übersetzer Serhij Zhadan (Žadan, geb. 1974) stellt den Krieg in seinen fiktionalen Texten „Internat“ und „Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte aus dem Krieg“ sowie in Feuilletontexten (z. B. „Die Armee, das sind auch wir“) in den Mittelpunkt seines Schreibens und untersucht darin die Formierung eines neuen Heldenbildes.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. München 2019.
  • Melanie Arndt: Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe. Göttingen 2020.
  • Katrin Boeckh: Stalinismus in der Ukraine: Die Rekonstruktion des sowjetischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg. Wiesbaden 2007.
  • Katrin Boeckh, Ekkehard Völkl: Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Regensburg 2007.
  • Katrin Boeckh, Oleh Turij (Hg.): Religiöse Pluralität als Faktor des Politischen in der Ukraine. München u. a. 2015.
  • Ingmar Bredies (Hg.): Zur Anatomie der Orange Revolution in der Ukraine. Wechsel des Elitenregimes oder Triumph des Parlamentarismus? Stuttgart 2005.
  • Čornobylske dosje KGB. Vid budivnyctva do avariї. Zbirnyk dokumentiv pro katastrofu na Čornobylskij AES [Das Čornobyl’-Dossier des KGB. Von der Errichtung bis zum Unfall. Dokumentensammlung zur Katastrophe im Čornobyler AKW]. Kyїv 2020.
  • Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 1914–1939. Paderborn, München, Wien, Zürich 2010.
  • Jaroslav J. Hrycak: Narys istoriї Ukraїny: Formuvannja modernoї ukraїns‘koї naciї XIX–XX st. [Abriss der Geschichte der Ukraine. Die Formierung der modernen ukrainischen Nation im 19.–20. Jahrhundert]. Kyїv 1996.
  • Raïsa P. Ivančenko: Istorija bez mifiv. Besidy z istoriї Ukraїns’koї deržavnosti [Geschichte ohne Mythen. Gespräche zur Geschichte der ukrainischen Staatlichkeit]. 2. Aufl. Kyїv 2006.
  • Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007.
  • Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart 2015.
  • Kerstin S. Jobst: Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris, Berlin, München, Boston 2020.
  • Andreas Kappeler (Hg.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung. Köln, Weimar, Wien 2011.
  • Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. 4. überarb. und aktualisierte Aufl. München 2014.
  • Ivan P. Kryp-jakevyč: Istorija Ukraїny [Geschichte der Ukraine]. L’viv 1992.
  • Robert Paul Magocsi: A History of Ukraine. 3. Aufl. Seattle 1998.
  • Isydor Nahajevs’kyj: Istorija ukraїns’koї deržavy dvadcjatoho stolittja [Geschichte des ukrainischen Staats im zwanzigsten Jahrhundert]. Kyїv 1994.
  • Olena Novikova, Oleksandr Pronkevyč, Leonid Rudnyc’kyj, Ulrich Schweier (Hg.): Ukraine und ukrainische Identität in Europa: Beiträge zur Standortbestimmung aus/durch Sprache, Literatur und Kultur. München 2017.
  • Tanja Penter: Kohle für Stalin und Hitler. Arbeiten und Leben im Donbass 1929 bis 1953. Essen 2010.
  • Heiko Pleines: Ukrainische Seilschaften. Informelle Einflussnahme in der ukrainischen Wirtschaftspolitik 1992–2004. Münster 2005.
  • Serhii Plokhy: Ukraine and Russia. Representations of the Past. Toronto 2008.
  • Serhii Plokhy: Chernobyl. The History of a Nuclear Catastrophe, New York 2018.
  • Winfried Schneider-Deters: Die Ukraine: Machtvakuum zwischen Russland und der Europäischen Union. Berlin 2012.
  • Gerhard Simon (Hg.): Die neue Ukraine. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik. Köln 2002.
  • Orest Subtelny: Ukraine. A History. 4. Aufl. Toronto 2009.
  • Ricarda Vulpius: Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860–1920. Wiesbaden 2005.
  • Karin Warter, Alois Woldan (Hg.): Zweiter Anlauf. Ukrainische Literatur heute. Passau 2004.
  • Andrew Wilson: The Ukrainians. Unexpected Nation. 3. Aufl. New Haven 2009.
  • Serhy Yekelchyk: Ukraine: Birth of a Modern Nation. New York 2007.
  • Serhy Yekelchyk: The Conflict in Ukraine. What Everyone Needs to Know. Oxford 2015.

Periodika

  • East/West: Journal of Ukrainian Studies, 2014ff.
  • Harvard Ukrainian Studies, 1973ff.
  • Ukraїns’kyj istoryčnyj zurnal [Ukrainische Historische Zeitschrift], 1957ff.
  • Ukraïns’kyj istoryk: žurnal istoriï i ukraïnoznavstva [Der ukrainische Historiker. Zeitschrift für Geschichte und Ukrainekunde], 1963ff.
  • Z archiviv VUČK, HPU, NKVD, KHB: Naukovyj i dokumentalʹnyj žurnal [Aus den Archiven von VUČK, GPU, NKVD, KGB: Wissenschaftliche und dokumentarische Zeitschrift], 1994ff.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Die Verfassung der Ukraine in ukrainischer, englischer und deutscher Sprache: www.verfassungen.net/ua/verf96-i.htm (Abruf 07.07.2020).

[2] Stephan Merl: War die Hungersnot von 1932–1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt? In: Guido Hausmann, Andreas Kappeler (Hg.): Ukraine: Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates. Baden-Baden 1993, S. 145–166, hier S. 147.

[3] Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. München 2019, S. 440.

[4] Merl: War die Hungersnot von 1932–1933 eine Folge der Zwangskollektivierung, sowie Stefan Merl: Entfachte Stalin die Hungersnot von 1932–1933 zur Auslöschung des ukrainischen Nationalismus? In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 37 (1989), H. 4, S. 569–590.

[5] Die Entschließung des Europaparlaments auf dessen offizieller Site: www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0523+0+DOC+XML+V0//DE (Abruf 07.07.2020).

[6] Vgl. unter anderem Polityčnyj teror i teroryzm v Ukraїni. XIX–XX st. Istoryčni narysy [Politischer Terror und Terrorismus in der Ukraine. 19.–20. Jh. Geschichtliche Skizzen]. Kyїv 2002.

[7] Dieter Pohl: Schauplatz Ukraine: Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und im Reichskommissariat 1941−1943. In: Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Bernd C. Wagner (Hg.): Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik. München 2000, S. 135−173, hier S. 169.

[8] Hartmut Rüss: Kiev/Babij Jar 1941. In: Gerd R. Ueberschär (Hg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 102–113, hier S. 102.

[9] Ukraïna: druha polovyna XX stolittja. Narysy istoriï [Die Ukraine: die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Abrisse der Geschichte]. Kyïv 1997, S. 4.

[10] Bohdan Harasymiw: Post-Communist Ukraine. Edmonton 2002, S. 8–9.

[11] www.transparency.org/en/cpi/2014/results (Abruf 07.07.2020).

[12] Yaroslav Hrytsak: „Revolution der Würde“. In: Claudia Dathe, Andreas Rostek (Hg.): Majdan! Ukraine, Europa. Berlin 2014, S. 72–78.

[13] Staatliches Komitee für Statistisik der Ukraine:  2001.ukrcensus.gov.ua/rus/results/general/nationality/ (Abruf 07.07.2020).

[14] Zum Kontext vgl. die Quellensammlung: Katrin Boeckh, Emília Hrabovec (Hg.), KonNetz: Konfessionelle Netzwerke der Deutschen in Russland 1922–1941. Quellen-Datenbank. Unter Mitarbeit von Steffi Keil. (konnetz.ios-regensburg.de/about.php).

[15] Vgl. dazu die Dokumentensammlung: „Bol'šoj terror“ v Ukraine: nemeckaja operacija 1937–1938 gg. [Der „Große Terror“ in der Ukraine: Die deutsche Operation der Jahre 1937–1938]. Hg.: Alfred Eisfeld, Andrij Kogut, Sergij Kokin, Otto Luchterhandt, Iryna Ljabach, Natalija Serdjuk, Joachim Tauber. Kiev 2018.

[16] Barbara Dietz, Peter Hilkes: Rußlanddeutsche: Unbekannte im Osten. Geschichte. Situation. Zukunftsperspektiven. 2. Aufl. München 1993; Eisfeld, Martynenko, Filtration und operative Erfassung, S. 123–130.

[17] Nach: Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1987, S. 267–268.

[18] Pohl: Schauplatz Ukraine, S. 168.

[19] Eric C. Steinhart: The Holocaust and the Germanization of Ukraine. Cambridge 2015.

[20] Steinhart: The Holocaust and the Germanization, S. 226–229, S. 236.

[21] Steinhart: The Holocaust and the Germanization, S. 236.

[22] Hans-Christian Petersen: Selective Memory. The Second World War in Ukraine in the Historical Memory of Russian Germans. In: Holocaust-Studies: A Ukrainian Focus. Special Issue, Dnipro 11 (2020), pp. 191–220. 
Online: Englische Fassung: www.duhk.org/fileadmin/data_duhk/documents/2020_HOLOCAUST_STUDIES_11_Eng.pdf, Deutsche Fassung: www.duhk.org/fileadmin/data_duhk/documents/2019_HOLOCAUST_STUDIES_11_Ukr_Germ.pdf, Downloads einzelner Artikel: www.hsuf-journal.com.ua/index.php/hsuf/issue/view/3; Dmytro Myeshkov: Die Deutschen in der Ukraine während der Besatzung 1941–1944. In: Burkhard Olschowsky, Ingo Loose (Hg.): Nationalsozialismus und Regionalbewusstsein im östlichen Europa. Ideologie, Machtausbau, Beharrung. München 2016, S. 401–423.

[23] Ortfried Kotzian: Die Umsiedler. Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine. München 2005, S. 54–61.

[24] Alfred Eisfeld, Vladimir Martynenko: Filtration und operative Erfassung der ethnischen Deutschen in der Ukraine durch die Organe des Inneren und der Staatssicherheit während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. Neue Folge. 21 (2012), Lüneburg 2013, S. 104–181, hier S. 155.

[25] Karsten Kammholz: Sorge um die deutsche Minderheit in der Ukraine. In: Die Welt, 24.03.2014. URL: www.welt.de/politik/deutschland/article126106942/Sorge-um-deutsche-Minderheit-in-der-Ukraine.html (Abruf 27.08.2019).

[26] Warter in Warter/Woldan 2004, S. 7.

Zitation

Katrin Boeckh: Ukraine. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2020. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32641 (Stand 30.11.2020).

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